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Bist Du gegen den Frieden?

Bist Du gegen den Frieden?

Europa hat der EU viel zu verdanken. Aber der Hinweis auf die historische Wahrheit reicht nicht, um ihr weiteres Bestehen zu sichern. Sie kann nur dann wieder erfolgreich werden, wenn sie den Bürgern das Gefühl von Sicherheit zurückgibt.

Von Viktor Orbán, Ministerpräsident von Ungarn

Vor kurzem war ich in Oggersheim. Es ist immer ein erhebendes Gefühl, mit Bundeskanzler Helmut Kohl über Europa zu sprechen. Auf dem Weg zum Stammhaus der Deutschen Telekom in Bonn, wo ich einen Vorgeschmack auf die Herausforderungen der Digitalisierung bekam, besuchte ich das Haus von Konrad Adenauer. Ich sah kijött von den Statuen von Adenauer und de Gaulle in Rhöndorf, wie kijött der Rhein im Sonnenlicht badete. Die an den beiden Seiten des Flusses lebenden Menschen haben Europas erfolgreichstes Projekt begonnen. Weshalb befindet sich die Union nun dennoch in einem so labilen Zustand? Es herrscht seit Jahrzehnten Frieden und der -wenn auch nicht gleichmäßig verteilte – Wohlstand macht Europa zum begehrtesten Winkel der Erde. Weshalb die vielen Zweifel der Menschen?

Und am frühen Morgen des 24. Juni, als auch die letzten Ergebnisse aus den britischen Wahlkreisen ankamen, wurde klar, dass das große Projekt in einem großen Mitgliedstaat die Unterstützung der Mehrheit der Bürger verloren hat. Die Sonne ist auch am 24. Juni aufgegangen, es ist jedoch ein Abschnitt in der Geschichte der europäischen Integration zu Ende gegangen, und ein neuer hat begonnen. Besitzen wir den nötigen Mut und die Ehrlichkeit, diese Situation zu verstehen, und darauf gemäß dem Respekt unseren Vorfahren und im Interesse unserer Bürger, Nationen und unserer Gemeinschaft die richtigen Antworten zu geben?

Wenn man in der DDR auch nur vorsichtig versuchte, offensichtliche Probleme zur Sprache zu bringen, so wurde dem Zweifelnden gegenüber ein dummes, aber unanfechtbar erscheinendes Argument hervorgebracht: „Genosse, bist Du gegen den Frieden?” Die EU, eine Reihe von Krisen durchmacht, kann sich der kritischen Erörterung von Grundfragen nicht damit entziehen, dass diejenigen, die Zweifel an diesem großen Projekt haben, die Soldatenfriedhöfe besuchen sollten. Für den Fortbestand der EU reicht die historische Wahrheit nicht aus.

Der europäische Aufbau ist über lange Jahre hinweg nicht reibungslos, aber grundsätzlich konsequent vorangegangen. Die Vertiefungs- und Erweiterungsrunden haben wie die Zähne eines Reißverschlusses ineinander gegriffen. Einer der erhebendsten Momente davon war die deutsche Vereinigung in 1990 und die Einigung Europas in 2004.

Im Jahr 2005 wurde dann etwas angeknackst. Die Bürger zweier Gründungsstaaten – Frankreichs und die Niederlande – haben den Verfassungsvertrag abgelehnt. Anders als bei Referenden in Dänemark und Irland über frühere EU-Verträge konnte man hier nicht erwägen, den Vertrag nach einer kleinen Korrektur noch mal zum Abstimmung zu stellen. Die Integrationsdynamik wurde gebrochen. Bis es durch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zu einer Korrektur kam, brach eine globale Krise über uns herein.

2008 erlitt die bislang durch Erfolge in der Wirtschaft legitimierte Elite Europas einen Fehlschlag. Durch die Wirtschafts- und Finanzkrise wurde die Illusion zunichte gemacht, dass die EU all ihren Bürgern kontinuierlichen, sogar wachsenden Wohlstand garantieren kann. Die Krise der Elite wuchs in einigen Mitgliedstaaten zu einer Demokratiekrise heran.

Das gipfelte 2014 in der geopolitischen Krise in der Ukraine und kaum ein Jahr später in der Migrationskrise. Ängste und Befürchtungen wuchsen, die Zahl der Lösungen und Antworten ging zurück. So gelangten wir zum britischen Referendum, einem Wendepunkt, denn es ist seit der Gründung der EU der erste Fall, dass sie ein Mitglied verliert, das es zur Desintegration kommt.

Die Mehrheit denkt heute, dass das austretende Vereinigte Königreich darunter leiden wird. Sicher, denn jede Neugeburt ist mit Leid verbunden. Ich mache mir jedoch keine Sorgen um die Briten, denn wir sprechen über die routinierteste Demokratie Europas, eine nicht umgehbare nukleare Militärmacht, ein Mitglied des UN Sicherheitsrates und die fünftgrößte Wirtschaft der Welt. Sie werden ihren neuen Platz schneller finden, als wir denken.

Machen wir uns lieber Sorgen um uns selbst. Wir müssen zunächst uns selbst und unseren Bürgern klarmachen, dass 27 Mitgliedstaaten und eine Gemeinschaft von 444 Millionen Bürgern bleiben. Das ist ein unverändert riesiges Potential. Diese Gemeinschaft kann aber nur erfolgreich sein, wenn wir die Menschen in den Kampf zur Bewältigung von Krisen mitnehmen. Wir brauchen jeden Menschen, jede Nation, jeden Mitgliedstaat. Institutionen können das nicht wettmachen. Die müssen helfen und koordinieren, aber nicht die Mitgliedstaaten in den Hintergrund drängen.. Die Institutionen sind für die Mitgliedstaaten da, nicht umgekehrt. Es ist eine rationale und entschlossene Fortbewegung notwendig. Die Denationalisierung, die Idealisierung des europäischen Projekts und darüber hinaus das falsche Selbstbild müssen aufgegeben werden. Die EU  und ihre Mitgliedstaaten verfügen jeweils nicht mehr über die Kraft und den Einfluss, wie vor Jahrzehnten. Wir haben ein weites Herz, aber unsere Möglichkeiten sind endlich. Wir müssen damit verantwortungsbewusst haushalten.

Wir sollten einsehen, dass die Versuche, mit denen für die Institutionen der EU eine direkte, also die Mitgliedstaaten umgehende demokratische Legitimation geschaffen werden sollte, eine gerade entgegengesetzte Wirkung hatten. Früher wurde der Kommissionspräsident durch einen Konsens der Mitgliedstaaten ausgewählt, aber nun wurden wir aufgeteilt in Mehrheit und Minderheit, was dazu führte, dass die Briten sichtbar außer Acht gelassen wurden. Das hat dazu beigetragen, dass die Mehrheit der Briten die Union satt hatte.

Der ungarische Grundgedanke und die Strategie sind einfach. Die EU ist reich, aber schwach, was die schlechteste Kombination ist. Gleichzeitig müssen unproduktive ideologische Diskussionen darüber vermieden werden, ob nun „mehr“ oder „weniger“ Europa benötigt wird. Wo mehr benötigt wird, brauchen wir mehr, wo weniger, brauchen wir weniger.

Die jüngste Vergangenheit zeigt, dass ein immer größerer Teil der Bürger Zweifel hat, und sich gegen das europäische Projekt wendet. Wir müssen auch einsehen, dass die Probleme wie die Lösungspotionen nicht nur von Politikern Parteien, sondern auch von den Bürgern recht unterschiedlich interpretiert werden. Manche wollen mehr Zentralisierung und manche weniger. Es gibt Menschen, die ein Europa der Nationen bevorzugen, andere würden sogar Nationalflaggen in Stadien verbieten. Es gibt solche, die aus großer Entfernung organisiert Arbeitskräfte nach Europa holen würden, während andere zunächst den vielen jungen Arbeitslosen zu Arbeit verhelfen möchten. Es gibt solche, die zur Bewältigung der demografischen Probleme Millionen aufnehmen würden, während andere auf Familienförderung schwören. Einige meinen, dass nun das dringendste Problem die Erhöhung des Tierschutzniveaus ist, während andere den Bürgern so schnell, wie möglich ihr Sicherheitsgefühl zurückgeben wollen. Es gibt Menschen, die die Länder des Westbalkans integrieren würden, während andere zurückschrecken, wenn die weitere Erweiterung erwähnt wird. Es gibt solche, die die Zukunft auf Kosten anderer planen,  während viele eine Verschuldung zulasten der Steuerzahler anderer Mitgliedstaaten oder besonders der künftigen Generationen ablehnen. Hinter jeder Meinung, hinter jedem Standpunkt stehen Bürger Europas.

Wie kann in diesem europäischen Durcheinander Ordnung geschaffen werden? Denn Ordnung muss selbst in einer Demokratie sein. Die Antwort ist nicht allzu kompliziert, besonders wenn wir uns zum Prinzip von „united in diversity” bekennen. Wir müssen die von uns selbst gemachten Regeln einhalten, zur konsequenten Anwendung des europäischen Rechts zurückkehren. Das bedeutet auch, dass wir gegenüber einander die gleichen Maßstäbe anwenden. Und dass wir die Rolle der nationalen Parlamente respektieren, „Gelbe Karte“ Verfahren nicht aushöhlen, dass wir nicht versuchen, sie von der Bekräftigung von internationalen Verträgen mit einer besonderen Bedeutung fernzuhalten, wie es im Falle von CETA oder TTIP geschah.

Der Hauptgrund der Krise und Verunsicherung ist, dass durch die Mißachtung der Regeln die beiden größten europäischen Errungenschaften riskiert werden: Die gemeinsame Währung und der durch Schengen geschützte Binnenmarkt, das heißt unsereLebensform und unser Wirtschaftsmodell. Die systematische Verletzung des Stabilitätspakts, sowie der Regeln von Schengen und Dublin sind zu einer Praxis geworden, noch dazu mit stillschweigender Zustimmung der Hüterin der Verträge. Der Begriff politische Kommission ist von vornherein schwer zu interpretieren, weil die Kompetenzendieser Institution im Vertrag klar festgelegt sind.

Unsere Gemeinschaft ist gleichzeitig eine Werte- und Verantwortungsgemeinschaft. Ein gutes Beispiel dafür sind die Haushaltsregeln, oder das Schutzsystem der gemeinsamen Außengrenzen. Die Verantwortung beginnt in keinem der Fälle in Brüssel, sondern im jeweiligen Mitgliedstaat. Die Gemeinschaft, beziehungsweise deren weitere Mitglieder kommen dann zu Hilfe, wenn der jeweilige Mitgliedstaat ohne eigenes Verschulden in Not, und unter zu großen Druck geraten ist. In diesem Sinne haben wir die Außengrenze zu 97 Prozent auf eigene Kosten beschützt. Aus dieser Überzeugung hat Ungarn, das Land, das als erstes gezwungen war, sich unter den Schutzschirm der EU und des Internationalen Währungsfonds (IMF) zu stellen, das als bisher einziger Mitgliedstaat wegen der Verletzung von Haushaltsregeln sanktioniert wurde, seine gesamte Schuld zurückgezahlt.

Es ist unbestreitbar, dass neben der Einhaltung der derzeitigen Regeln die Notwendigkeit der Schaffung neuer Regeln bestehen kann. Auch daran sollte nicht auf ideologischer Basis herangegangen werden. Der Schutz der Außengrenzen, die Digitalisierung oder die Industriepolitik sind Gebiete, wo die Stärkung der europäischen Zusammenarbeit von der guten Vernunft diktiert wird. Die gemeinsame Außen- und Sicherheits-, sowie Verteidigungs- und Entwicklungspolitik kann auch hierzu gezählt werden. Wo es jedoch Diskussionen gibt, wie es weitergehen soll, dort steht ein einziges europäisches Mittel zur deren Beilegung zur Verfügung, und (auch) das ist der Vertrag selbst. Euro und Schengen beweisen: Die flexible Integration ist Realität. Der Fortschritt in einem engeren Kreis ist auch keine neue Erfindung, das Regelungssystem der verstärkten Zusammenarbeit ist ausgearbeitet. Es ist unnötig, sogar gefährlich, die geregelten Rahmen zu verlassen, die einheitlichen Rahmen der Integration infrage zu stellen und laufend eine immer stärker auseinandergerissene EU zu sehen.

Wir können natürlich nicht naiv sein, es gibt Anhänger einer verborgenen Vertragsänderung. Beispiele dafür sind die Vorschläge hinsichtlich des „Spitzenkandidaten” für den Posten des Kommissionspräsidenten oder für die ständige und obligatorische Verteilung von Flüchtlingen. Ich kann auch auf den jüngsten Beschluss des Europäischen Parlaments in Sachen Aktivierung von Artikel 50 hinweisen.

Die andere grundsätzliche Aufgabe ist die Wiederherstellung des Sicherheitsgefühls der Bürger. Der unkontrollierte Zustrom von Hunderttausenden, der Zusammenbruch von Systemen, insbesondere des Schutzes der Außengrenzen, und eine Reihe von grausamen Attentaten, die von der erfolglosen Integration nicht losgelöst betrachtet werden können, lassen keine weitere Inaktivität zu.

Das Gleiche gilt für die europäische Wirtschaft und den Arbeitsmarkt. Ja, wir sind Augenzeugen eines Rendez-vous mit der Globalisierung. Wenn wir jedoch glauben, wenn wir genug Kraft in uns spüren, dann müssen wir uns nicht mit der Situation abfinden, sondern uns dem Wettbewerb stellen. Die Außengrenzen, von denen man früher dachte, sie seien nicht zu verteidigen, werden allmählich doch geschützt. Die spanische Methode, die beweist, dass die blaue Grenze zu schützen ist. Die ungarische Methodezeigt, dass die grüne Grenze geschützt werden kann. Neben der großen Völkerwanderung zeigen andere Erscheinungen der Globalisierung, besonders die alltäglichen Wirkungen der Digitalisierung auf Wirtschaft und Gesellschaft, wo Risiken und Chancen liegen. Ungarn will mit allen Mitteln die Nationale, Regionale und europäische digitale Agenda als „Chefsache” vorantreiben. Es ist heute mehr, denn jäh notwendig, dass kleine und große, alte und neue, den Euro anwendende und noch nicht anwendende, östliche und westliche, nördliche und südliche Mitglieder zusammenhalten. Die zentrale Position von Deutschland wird – ob es gefällt oder nicht – weiter gestärkt. Deutschland kann hinsichtlich der europäischen Verantwortungsgemeinschaft auf Ungarn zählen. Das ist auch dann war, wenn wir eine wichtige Sache in unserem Interesse und im Interesse unserer gemeinsamen Union unter uns klären müssen. Das könnte ich mit einem Wort beschreiben: Zaun.

1989 haben wir gemeinsam europäische Geschichte geschrieben. 2015 gerieten wir gemeinsam in den Fokus einer europäischen Diskussion. Uns selbst und unseren europäischen Partnern können das wiederum nur wir gemeinsam – nur erklären. Ungarn gehört nicht zu den großen Mitgliedstaaten. Der liebe Gott hat das Land jedoch an eine solche Stelle auf der Karte getan, wo die Geschichte manchmal über das Land ankommt.

Im Sommer 2015 kamen Tag für Tag über zehntausend Migranten an der serbisch-ungarischen Grenze an, die sich nicht um europäische Regeln scherten und zuvor übrigens bereits in einem anderen Mitgliedstaat auf dem Gebier der Schengen-Zone gewesen waren. Da das an der Außengrenze liegende Land dafür verantwortlich ist, den kontrollierten Grenzübertritt zu sichern, blieb keine andere Wahl, als die Aufstellung eines physischen Hindernisses. Es sei nur leise bemerkt, dass das damals bereits der fünfte Zaun auf dem Gebiet der EU war. Ein wesentlicher Teil der deutschen öffentlichen Meinung konnte nicht verstehen – manche bis heute nicht – wie Ungarn, das den eisernen Vorhang abgerissen hatte, das machen konnte.Ich habe Verständnis dafür, wenn es der Jahrzehnte lang durch eine Mauer und Drähte geteilten deutschen Gesellschaft vor Zaunanlagen schaudert. Aber wenn irgendjemand, dann haben die Ungarn jede moralische Grundlage dafür, das ihren deutschen Freunden zu erläutern. Denn der Eiserne Vorhang, der nach dem zweiten Weltkrieg Europa, darunter das deutsche Volk geteilt hatte, wurde von Ungarn durchgeschnitten. In Ungarn wurde die Entscheidung, die DDR-Bürger durch die Kündigung eines bilateralen Regierungsabkommens, das noch in den sechziger Jahren, als logische Konsequenz des Mauerbaus in Berlin mit der DDR abgeschlossen worden war, systematisch ausreisen zu lassen, von einem Konsens der gesamten Gesellschaft, der demokratischen Opposition und der reformkommunistischen Regierung getragen. Ungarn schlug mit den Mitteln des Völkerrechts den ersten Stein aus der Mauer. Das führte zur deutschen Einheit. Und als Folge davon zur europäischen Einigung. Dies geschah auch aus aus Eigeninteresse. Die deutsche Einheit hängt deshalb eng mit der ungarischen Unabhängigkeit und Freiheit zusammen. Beide können nicht von der Einheit Europas getrennt werden. Wir können noch hinzufügen, dass die Vereinigung Deutschlands in keinem anderen Land eine so große und ungeteilte Unterstützung erfuhr, wie in meiner Heimat. Es ist vielleicht auch kein Zufall, dass die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft in Ungarn zu den größten gehört.

1989 haben wir einen Zaun niedergerissen, der die Völker Europas trennte. Im Frühherbst 2015 haben wir an der grünen Außengrenze der Schengen-Zone einen Zaun gezogen, um die die größte europäische Errungenschaft, die freie Begehbarkeit des gemeinsamen Raumes und den durch Schengen geschützten Binnenmarkt zu schützen. Dadurch haben wir – zumindest auf unserem Grenzabschnitt – das Lebens- und Wirtschaftsmodell der Europäer beschützt. Na ja, und ihre Sicherheit.

Das taten wir als gute, die Regeln befolgende Europäer. Der Schutz der Außengrenze ist keine schöne Sache, keine Frage der Ästhetik, das kann nicht mit Blumen und Plüschtieren gemacht werden. Als ich in Banz den CSU-Politikern sagte, ich sei ihr Burgkapitän, brachte ich das Wesen von Schengen zum Ausdruck. Die Außengrenze Deutschlands und der zentralgelegenen Mitgliedstaaten liegt viele hundert Kilometer von ihnen entfernt. Diese Länder haben darauf vertraut, dass die Mitgliedstaaten an der Außengrenze ihre Aufgaben erfüllen. Ungarn hat sie erfüllt. Ungarn beschützt Deutsche, wie auch Schweden, Niederländer, und alle anderen europäischen Partner. Solche Gedanken rufen bei Manchen geradezu reflexartig den Vorwurf von Populismus hervor. Gemäß der Shakespearischen Interpretation sind jedoch Populisten Menschen, die den Spaten Spaten und die Katze Katze nennen. Wir Ungarn nennen die Dinge beim Namen. Das ist ein Teil unserer Naturgeschichte. Die auf Europa entfallende Migrationslast wollen wir nicht verteilen, sondern auflösen und beseitigen.

Heute haben wir es soweit geschafft, dass der Schutz der Außengrenze Konsens ist. Wir sind uns auch in zahlreichen anderen Fragen viel näher gekommen. Das gemeinsame Vorgehen gegen die Ursachen der Migration gehört auch hierher, an dem deutschen und ungarischen Soldaten in mehreren Kritischenregionen gemeinsam beteiligt sind. Wir teilen die Ansicht, dass Bedürftige so nah der Heimat, wie möglich unterstützt werden sollen. Die Zusammenarbeit mit den Herkunfs- und Transitländern spielt eine immer größere Rolle. Wir haben das Maß der humanitären und finanziellen Unterstützung unseren Fähigkeiten entsprechend erhöht. Ungarn hat niemanden im Stich gelassen, besonders nicht die Deutschen.

Neben dem Wort Zaun gibt es noch ein weiteres Wort, über das wir mieinander reden müssen. Dieses Wort lautet Freiwilligkeit. Die Institutionen in Brüssel hielten (und halten sogar noch) die ganze Migrationskrise mit einem Mittel für lösbar: Das ist die Zwangsquote. Ungarn hat sich als erstes Land und sehr bestimmt dagegen gewendet. Wir waren dagegen in der politischen Debatte, wir siehen vor den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg und holen in Form eines Referendums die Meinung der Ungarn ein. Warum dieser entschlossene, harte Standpunkt?Zum einen ist jede Form der Verteilung nur eine Einladung, solange wir an unseren Außengrenzen nicht Herr der Lage sind, solange nicht wir bestimmen, wer unser Gebiet betreten kann. Zum anderen ist eine Zwangsverteilung nicht möglich, wenn der Schlepper oder der zu verteilende Migrant selbst bestimmt, wohin er möchte. Drittens machen sich gerade wegen dieser Nachricht Millionen von Wirtschaftsmigranten auf den Weg. Ein besseres Leben kann nicht als ein Grundrecht betrachtet werden, auch wenn wir das noch so sehr gewährleisten möchten. Nicht zuletzt gibt es für die massenhafte Zuwanderung keine konsistente europäische Gesetzregelung.

Wir sind wieder an dem Punkt, dass bis zur Verabschiedung einer neuen Regel höchstens auf freiwilliger Basis bestimmt werden darf, wenn es für etwas keine gemeinsam verabschiedete Regelung gibt. Das Prinzip der Freiwilligkeit wurde vom Europäischen Rat mehrmals per Konsens angenommen. Das wollten andere Institutionen in Brüssel nicht zur Kenntnis nehmen. Mehr noch, die jüngsten Vorschläge der Europäischen Kommission versuchen drei voneinander abweichende Dimensionen zu vermischen: das Asylrecht, die legale Einwanderung und die Demographie. Das ist ein schwerwiegender Fehler.

Echten Flüchtlingen muss möglichst effizient geholfen werden. Für die legale Einwanderung gibt es gemeinsame Regeln, aber die Zahl selbst ist eine nationale Befugnis. Das ist richtig, weil die Lage der Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich. Bei uns müssen mehrere hunderttausend Roma-Landsleute in den Arbeitsmarkt integriert werden, andernorts sind Hunderttausende junge Akademiker arbeitslos. Im Bereich der Demografie hat die Union überhaupt keine Befugnis. Das Problem besteht auch bei uns. Es gibt keine Garantie dafür, dass unsere Antwort darauf, die Stärkung der Familienpolitik, erfolgreich sein wird. Wir möchten unser Gesellschaftsbild, wie und mit wem wir zusammenleben, selbst entscheiden. Wir leben in Ungarn seit Jahrhunderten mit unseren Landsleuten zusammen, die aus vielen Ecken Europas stammen. In der Ungarischen Nationalversammlung haben dreizehn Minderheiten einen Fürsprecher. Die katholische Kathedrale von Budapest ist einen Steinwurf von der überwältigenden Synagoge entfernt. In diesem Kulturbereich sind Generationen aufgewachsen. Das Zukunftsbild ihrer Gesellschaft wurde jedoch von ihnen gemeinsam gestaltet und nicht gemäß der Instruktionen einer fernen und gesichtslosen Institution.

Der Schutz der Außengrenze muss das erschütterte Sicherheitsgefühl der Bürger wiederherstellen. Das ist wichtig, aber natürlich nicht ausreichend. Im Bereich der Stärkung der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie im Bereich der Konsistenz der Entwicklungspolitik gibt es viel zu tun. Die Länder des Westbalkans, die von EU-Mitgliedern umschlossen sind, müssen eine neue Perspektive erhalten. Der Fokus auf die südliche Nachbarschaft ist wichtig, kann jedoch die östliche und die südöstliche Richtung nicht ablösen.

Wir können eine Diskussion über unsere strategischen Partner auf der höchsten Ebene nicht weiter hinauszögern. Man braucht sich nicht davor zu fürchten, wenn über das Verhältnis zwischen der EU und Russland oder sogar der EU und den Vereinigten Staaten die Staats- und Regierungschefs und nicht Beamte diskutieren. Wenn wir die politische Kontrolle verlieren, können so wichtige Projekte wie TTIP in eine Sackgasse geraten.

Schließlich, aber nicht zuletzt muss die Wettbewerbsfähigkeit der EU als Problem und als Möglichkeit benannt werden. Im Jahre 2000 kam eine Lissabon-Strategie zustande. An die Beschlüsse der Parteikongresse der sozialistischen Zeit zurückdenkend haben wir über die Höhe ihrer Ambitionen schon damals ein wenig gelächelt. Es geht aber um etwas Todernstes. Der wichtigste Parameter der Schwächung der EU ist die Wirtschaft. Eine schrumpfende Bevölkerung und Wirtschaftsleistung stehen unverhältnismäßig hohen Sozialausgaben gegenüber. Während wir unter dem Druck der Migrationswellen wertvolle Monate verloren haben, ist die Digitalisierung über uns hereingebrochen. Hier geht es nicht mehr nur darum, dass einzelne Branchen und Unternehmen in eine Krise geraten können, sondern darum, dass wir gezwungen werden, die Gesellschaft und die Wirtschaft, das bisherige Leben der Gemeinschaft und des Einzelnen umzugestalten – oder es könnte sich eventuell auch von selbst umgestalten. Millionen sorgen sich um die Zukunft ihrer Arbeitsplätze.

Die Digitalisierung, die Industriepolitik und die damit verbundene Innovation, die Bildung und die Entwicklung der Infrastruktur sind gute Beispiele dafür, dass das ideologische Gewand von „mehr“ oder „weniger“ Europa abgelegt werden muss. Es müssen pragmatisch die Bereiche bestimmt werden, in denen die europäische Integration fortentwickelt werden kann. Wir brauchen eine positive Agenda, Sicherheit und Wachstum. Es müssen bewährte Methoden verbreitet (wie die duale Ausbildung) oder neue eingeführt werden, wie Geschäftsmodelle auf Internetbasis oder Förderung von Start-Ups.

Ungarn verwendet noch nicht den Euro. Für unsere mit dem süddeutschen Wirtschaftsraum eng verbundene Wirtschaft ist es jedoch eine Kernfrage, in welchem Maße die Eurozone und deren größte Volkswirtschaft auf eine stabile Wachstumslaufbahn gestellt werden. Als ein Krisengipfel dem anderen folgte, da konnte allen klarwerden, was der Kern der deutschen heiligen Dreifaltigkeit ist: Haushaltsdisziplin; Wettbewerbsfähigkeit; Strukturreformen. Hierbei, bei einem neuen europäischen Wachstumsprogramm, ist Ungarn und ganz Mitteleuropa ein zuverlässiger Partner. Das trifft auch auf den Sicherheitsbereich im erweiterten Sinne zu. Wir, Ungarn und Deutsche können zusammen viel für den Erfolg des europäischen Projekts tun. Wir können den bismarckschen Mantel gemeinsam ergreifen.

Eine Renaissance des europäischen Gedankens ist möglich. Ungarn empfindet mit den Visegrád-Staaten zusammen die notwendige Entschlossenheit, Kraft und das Engagement, dabei eine entsprechende, verhältnismäßige Rolle zu spielen. Auf diese Gedanken bringen mich Oggersheim und Bad Röhndorf.