Ungarn vertraute früh auf den russischen Corona-Impfstoff Sputnik V und fährt gut damit. Im Interview mit FOCUS Online verteidigt Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán seine nationale Impfpolitik, weil die EU zu langsam handele. Auch der europäischen Einwanderungspolitik erteilt er eine klare Absage. Sie habe „aus dem Mittelmeer einen Friedhof gemacht“
Ulrich Reitz: Herr Ministerpräsident, Ungarn ist der erste Mitgliedsstaat der EU, der den russischen Sputnik-V-Impfstoff benutzt. Befürchten Sie nicht einen Sputnik-Schock?
Überhaupt nicht. Inmitten einer Pandemie ist es die Aufgabe der Politiker, dem in sie gesetzten Vertrauen gerecht zu werden, Verantwortung zu übernehmen und das Leben und die Gesundheit ihrer Bürger zu schützen. Deshalb muss die Pandemie bekämpft und möglichst schnell möglichst viel Impfstoff eingekauft werden. Wer Zeit gewinnt, gewinnt Leben, gewinnt Freiheit. Es gibt keinen östlichen und keinen westlichen Impfstoff, es gibt nur guten und schlechten. Die ungarischen Gesundheitsbehörden haben ihre Prüfungen abgeschlossen und garantieren die Wirksamkeit der Impfstoffe.
Beschäftigen Sie sich nicht damit, woher der Impfstoff kommt oder wer der Hersteller ist?
Nein. Wenn die ungarischen Zulassungsbehörden einen Impfstoff als sicher und wirksam erachten, erteilen sie die Zulassung. Für mich ist er von diesem Moment an ein ungarischer Impfstoff, mit dem ich das Leben meiner Landsleute retten kann.
Das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und Russland ist ziemlich gespannt. Kann man die Beschaffung von Impfstoff von diesem Konflikt trennen?
Ja. Der Schutz des menschlichen Lebens und die Gesundheit stehen über politischen Aspekten, ja auch über der Geopolitik. Es ist unverantwortlich, aus den Impfstoffen eine politische Frage zu machen, und nur deshalb die Menschen sterben zu lassen und ihre Freiheit einzuschränken, weil es politische Beanstandungen gegenüber dem Herstellerland gibt. Hinzu kommt noch, dass man uns in unserer Kindheit in der Zeit des Kommunismus mit sowjetischen Vakzinen geimpft hat, und Sie sehen, es geht uns gut. Ganz objektiv betrachtet gab es im Osten eine Impfkultur, Polio konnte dadurch viel früher besiegt werden als im Westen, während des kalten Krieges damals wurde der russische Impfstoff von den westlichen Staaten aus ideologischen Gründen nicht übernommen.
Die Europäische Union hat beschlossen, den Impfstoff für die Mitgliedsstaaten zentral einzukaufen. Auch dies war eine politische Entscheidung gegenüber einen sogenannten Impfstoff-Nationalismus. Wie bewerten Sie die Brüsseler Entscheidung?
Heute ist es schon offensichtlich, dass dies eine falsche Entscheidung war. USA, Großbritannien, Israel und auch Serbien sind uns EU-Mitgliedern weit voraus. Aber jetzt ist es zu spät, jammern bringt nichts. Die Kommission soll tun, was sie tun muss. Wir behindern sie hierin natürlich nicht, und wo wir können, unterstützen wir sie. Doch setzen wir aus Verantwortung gegenüber den Menschen unsere nationalen Kompetenzen ein.
Und warum fühlen Sie sich nicht an den Beschluss der EU gebunden?
Brüssel folgt seiner eigenen Logik. Es nimmt die Bedeutung des Zeit-Faktors nicht entsprechend wahr. Es erteilt die Zulassungen zu langsam und befindet sich offensichtlich nicht in einer Position der Stärke gegenüber den Lieferanten. Aber die Regularien der EU schließen die Möglichkeit des nationalen Handelns nicht aus, das nutzen wir für unser Land.
Die Europäische Union hatte politische, manche sagen „ideologische“ Motive bei der Beschaffung von Impfstoff, nach dem Motto: „Europa zuerst”. Wie denken Sie darüber?
Wir wissen nicht genau, was in Brüssel und den Köpfen der Brüsseler Bürokraten geschieht. Doch ich weiß, dass jeder Verstorbene der Vater, die Mutter, die Schwester, der Bruder, eventuell das Kind von jemandem war. Das ist eine höhere Dimension als die Dimension der europäischen Politik. Gesundheit und Freiheit unserer Bürger haben absolute Priorität.
Brüssel wollte aus der Beschaffung von Impfstoff ein Signal machen: Seht her, als Gemeinschaft sind wir stärker als alle Einzelmitglieder es isoliert sein können. Anders formuliert: Europa als Zentralstaat funktioniert. Überzeugt Sie diese Strategie?
Nein. Jede Strategie ist so viel wert, wie sie erfolgreich ist. Dort, wo das gemeinsame Auftreten zum Erfolg führt, muss man gemeinsam auftreten, und dort, wo der nationale Weg erfolgreich ist, muss man diesen beschreiten. Jetzt wollten wir gemeinsam etwas, das jeder für sich selbst offensichtlich erfolgreicher hätte lösen können, siehe Großbritannien oder Serbien.
Die Regierungen zahlreicher Länder sind der Ansicht, wir könnten nur mit vereinter Kraft den Wettbewerb gegen die Vereinigten Staaten, China, Russland bestehen. Was denken Sie darüber?
Wieso gegen? Ich habe 26 Jahre im Zeitalter des Kalten Krieges gelebt. Glauben Sie mir, es war nicht gut. Wir Ungarn haben dabei nur verloren. Ich unterstütze jene nicht, die die Politik des Kalten Krieges wieder zurückbringen wollen. Russland und China sind eher eine große Möglichkeit für Europa. Wir müssen Formen der Kooperation suchen, die unseren Interessen dienen.
Ist Europa, was seine wirtschaftliche Entwicklung angeht, eigentlich auf dem richtigen Weg?
Hier bei uns in Mitteleuropa laufen die Dinge gut. Alle unsere Wirtschaftsdaten sind exzellent, unser Staatshaushalt ist bestens in Ordnung. Unsere arbeitsorientierte Politik hat uns nahezu Vollbeschäftigung beschert und wir kommen mit der Digitalisierung gut voran. Im Westen gibt es ein Zuviel an den Sozialismus erinnernder Wirtschaftspolitik, an Steuererhöhungen, an komplizierten Regelungen für Investitionen und an unternehmerfeindlichen Maßnahmen. Die EU müsste wesentlich bemühter sein, die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, aber leider sinkt deren Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung und das erfüllt uns mit Sorge.
Den größten Konflikt mit der EU haben Sie bei der Einwanderung. Weshalb sind Sie so sehr dagegen, Migranten über alle Länder der Union gleichmäßig zu verteilen?
Weil sie auf einer falschen Auffassung basiert. Man muss nicht das Problem nach Europa bringen, sondern die Hilfe dorthin bringen, wo es entsteht. Deshalb haben wir Hungary Helps ins Leben gerufen. Die EU weckt Illusionen in den Einwohnern der Krisengebiete. Sie glauben, man würde sie hier mit offenen Armen erwarten, sie wollen ein europäisches Leben, doch am Ende landen sie in den Händen der Schlepperbanden. Die falsche europäische Pull-Faktor-Politik hat aus dem Mittelmeer einen Friedhof gemacht.
Sie wollen, wenn wir Sie richtig verstanden haben, Einwanderung gezielt steuern?
Ungarn möchte die Herausforderungen der Demografie mit Hilfe der Unterstützung der Familien, durch starke familienpolitische Maßnahmen lösen, und nicht durch das Hereinrufen von Einwanderern. Die Deutschen wollen uns ihre eigene Willkommenspolitik aufzwingen. Darauf muss ich „nein“ sagen.
Bei der Behandlung von Flüchtlingen beruft sich Brüssel auf internationales Recht. Ist das nicht richtig?
Ja, die Genfer Flüchtlingskonvention existiert, man muss sie auch respektieren und einhalten. Nur geht Brüssel über sie hinaus, und das ist ein Fehler.
Sie sagten einmal, man hätte den Brexit vermeiden müssen. Wie?
Ich nenne ein Beispiel: Als der Premierminister der Briten darum bat, dass nicht Juncker der Präsident der Europäischen Kommission sein solle, wurde der britische Wunsch ignoriert. Man kann mit einer der größten Wirtschaften der Welt, einer nuklearen Großmacht, dem Mitglied des Sicherheitsrates nicht so umspringen. Hat es sich für die EU gelohnt?
Sie haben über Deutschlands Europabild gesagt, Berlin glaube – im Gegensatz zu Ihnen – an ein postchristliches, postnationales Europa. Was verstehen Sie darunter und warum sollte das verwerflich sein? In Deutschland verlassen schließlich immer mehr Menschen die Kirchen und die nationalen Grenzen werden in der Globalisierung immer unwichtiger.
Selbstverständlich respektieren wir die Entscheidung der Deutschen, wie sie sich ihr Land nach ihrer eigenen Vorstellung, auch bezogen auf christliche Werte oder ihrer eigenen Definition der Nation, vorstellen. Wir bitten sie nur, unsere Entscheidung, wie wir uns selbst als Ungarn definieren wollen, ebenfalls zu respektieren. Europa war immer schon vielfarbig, so muss es auch bleiben. Vielfalt in der Einheit!
In einigen Monaten wird Angela Merkel die deutsche und die europäische Bühne verlassen. Ist dies ein Risiko oder eine Chance für Europa?
Ein Risiko. Ich hätte mich gefreut, wenn sie bleiben würde, das wäre für alle besser gewesen, aber wissen Sie, hier zählt die Meinung der Ungarn nicht, das ist eine deutsche Entscheidung. Wir werden mit ihrem Nachfolger den besten gemeinsamen Weg finden, unsere historische deutsch-ungarische Freundschaft weiter auszubauen.