Rede von Viktor Orbán in der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments
26. April 2017. Brüssel

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Vizepräsident der Kommission! Meine Damen und Herren Abgeordnete!

Im Europäischen Parlament findet erneut eine Debatte über Ungarn statt. Ich bin zu Ihnen nach Brüssel gekommen, um mich an dieser Debatte zu beteiligen. In den nahezu 30 Jahren, in denen ich Abgeordneter war, habe ich die Debatte und das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Meinungen immer sehr geschätzt. Demokratie beruht immer auf Argumenten und auch die Europäische Union beruht auf dieser moralischen Grundlage. Ich bin überzeugt, dass man immer bessere Entscheidungen trifft, wenn der Entscheidungsfindung eine Debatte und nicht einseitige Erklärungen zugrunde liegen. Durch meine Teilnahme möchte ich dazu beitragen, dass Sie eine fundierte Entscheidung treffen, wenn heute Ungarn auf der Tagesordnung steht. Ich erinnere mich noch an die Entschließungen des vorangehenden Parlaments über Ungarn, die die Wahrheitsprüfung nicht bestanden haben. Denken wir nur an das spektakuläre und für alle Seiten peinliche Scheitern des Tavares-Berichtes. Sie sollten wissen, dass wir Ungarn den Kampf nie aufgeben, und ich appelliere auch heute in dieser Debatte an den gesunden Menschenverstand. Die Debatte wird zum Teil mit Ihnen, zum Teil mit einem amerikanischen Finanzspekulanten geführt. Ich weiß, dass die Kraft, die Größe und das Gewicht Ungarns viel kleiner ist als das von Ihnen, und auch kleiner als das von George Soros, dem amerikanischen Finanzspekulanten, der Ungarn angreift, und der durch seine Finanzspekulationen zwar das Leben von Millionen Europäern zerstört hat, und in Ungarn wegen Spekulation bestraft wurde, und auch ein erklärter Feind des Euro ist, hier jedoch so hoch im Kurs steht, dass er von den höchsten Leadern der Europäischen Union empfangen wird. Dies ist aber nicht Grund genug, uns aufgrund von Unwahrheiten zu verurteilen, denn Gerechtigkeit darf nie von der Größe eines Landes abhängen.

Hohes Haus!

Ich bin hierhergekommen, um mein Land in der Debatte zu verteidigen. Es ist aber auch wichtig für mich, über Erfolge zu berichten. 2008 sind wir aus der gleichen Ausgangsposition gestartet, wie Griechenland. Die damalige Regierung Ungarns hat als Erstes beim Internationalen Währungsfonds und bei Ihnen, der Europäischen Union, einen Kredit beantragt. Inzwischen haben wir dieses Geld vorzeitig und vollständig zurückgezahlt. Seither haben wir mehrere hunderttausend Arbeitsplätze geschaffen. Ungarn ist auf dem Weg hin zur niedrigsten Arbeitslosenrate in der EU. Sie liegt derzeit bei 4 Prozent. Wir haben die arbeitsbasierte Gesellschaft geschaffen. Statt Beihilfen zu zahlen, schaffen wir Arbeit für alle, die arbeiten wollen. Unser Ziel ist Vollbeschäftigung. Unser Haushaltsdefizit übererfüllt schon seit Jahren die von Ihnen geforderten Kennzahlen und lag zuletzt bei -1,8 Prozent. Unsere Staatsschulden sinken, unser Wirtschaftswachstum liegt in diesem Jahr stabil bei etwa 4 Prozent. Wir müssen noch viele Probleme lösen, aber wir können auch auf Einiges stolz sein. Ich bin überzeugt, dass der Erfolg Ungarns zugleich ein Erfolg Europas ist, und die EU braucht heute Erfolge. Es wäre dumm, wenn diese Tatsachen heute wegen ideologischer Unterschiede nicht genug Aufmerksamkeit bekämen.

Sehr geehrtes Europäisches Parlament !

Wie ich sehe, gibt es mehrere Dinge, die Sie interessieren könnten. Es geht das Gerücht um, dass die ungarische Regierung die Privatuniversität des amerikanischen Finanzspekulanten George Soros in Budapest per Gesetz geschlossen hat. Der Rektor dieser Universität schrieb den Lehrkräften und Studierenden Folgendes, ich zitiere: „Ich möchte betonen, dass die Existenz der Zentraleuropäischen Universität nicht in Gefahr ist, die Universität wird unter allen Umständen ihre Tätigkeit weiter ausüben.”

Sehr geehrte Kommission! Sehr geehrtes Parlament!

Dieser Vorwurf ist also grundlos. Er ist nicht auf Fakten gestützt. Die Lage ist absurd. Es ist so, als würde man jemanden des Mordes beschuldigen und verurteilen, obwohl das Opfer des mutmaßlichen Verbrechens lebt und sich bester Gesundheit erfreut, und sogar selbst auf den Verurteilten zeigt und Mörder ruft. Die Wahrheit aber ist, dass die vom Ungarischen Parlament verabschiedete, beschränkte Gesetzesänderung 28 in Ungarn tätige ausländische Universitäten betrifft. Sie soll lediglich die einschlägigen, geltenden Regelungen vereinheitlichen, Möglichkeiten für Spekulation und Missbrauch eindämmen, Transparenz einfordern und im Vergleich mit europäischen Universitäten bestehende bisherige Privilegien abschaffen.
Sie sind hier für europäische Gesetzgebung zuständig. Als Ungarns Ministerpräsident und als Regierungschef eines EU-Mitgliedstaates ist es meine Pflicht, sicherzustellen, dass die Universitäten in Europa und Ungarn gegenüber ihren Konkurrenten von außerhalb der EU nicht benachteiligt werden. Egal, wie mächtig und wie reich ihr Eigentümer ist.

Sehr geehrtes Parlament!

Der andere Tagesordnungspunkt ist die nationale Konsultation, die von meiner Regierung zurzeit durchgeführt wird. Ich darf Sie informieren, dass es in Ungarn im letzten Jahrzehnt zur Gewohnheit geworden ist, die Bürger des Landes regelmäßig zu befragen. In den letzten Jahren haben wir viermal eine nationale Konsultation abgehalten. Diese Methode möchte ich auch Ihnen ans Herz legen. Bei der laufenden Konsultation möchte die ungarische Regierung die Menschen in Ungarn dazu befragen, welchen Standpunkt sie in Brüssel zu konkreten Fragen vertreten soll.

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete!

Ich möchte hier ganz klar sagen, dass das Engagement Ungarns und der ungarischen Regierung im Hinblick auf die Europäische Union außer Frage steht. Die Politik in Ungarn stützt sich in den letzten dreißig Jahren auf diese Grundlage. Deshalb habe ich auch die unlängst verabschiedete Erklärung von Rom mit unterschrieben, mit welcher ich völlig übereinstimme, wie auch mit dem vor Kurzem in Malta angenommenen Programm unserer Parteifamilie, der Europäischen Volkspartei. Zugleich sind wir, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrter Herr Vizepräsident, in vieler Hinsicht unzufrieden mit der Europäischen Union. Wir äußern Kritik, weil wir die Fehler korrigieren und die Europäische Union reformieren möchten. Wir sind überzeugt, dass wir das Vertrauen der Bürger in die Institutionen der Europäischen Union nur dann zurückgewinnen können, wenn wir alles tun, um die Ursachen der schlechten und wenig effizienten Arbeit zu beseitigen. Für eine Therapie braucht man eine klare Diagnose, die Probleme müssen klar benannt werden. Ich persönlich, aber auch die Ungarn im Allgemeinen, reden gerne Klartext. Wir wählen unsere Worte klar und deutlich, damit jeder sie verstehen kann. Dies auch dann, wenn wir wissen, dass es nicht jedem gefällt. Wir sind irritiert von politischem Sprachgebrauch, welchem Fesseln angelegt wurden, der sich im öffentlichen Diskurs in Europa verbreitet hat, und der unfähig ist, die Dinge klar beim Namen zu nennen. Ich glaube nicht, dass es richtig ist, in allen 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union das gleiche Temperament und die gleiche Streitkultur zu erwarten. Deshalb finde ich die europäische politische Kultur aufregend, und deshalb gefällt sie mir persönlich. Wenn Sie Ihre Vorurteile gegenüber uns abbauen, werden Sie eine erfrischende, innovative und kreative politische Denkweise entdecken. Dies gilt auch für die Konsultation.

Ich bin überzeugt, dass Ungarn seine Ergebnisse gerade dieser Denkweise zu verdanken hat. Die Grundeinstellung der ungarischen Regierung in manchen Fragen, die in den Fragebögen der nationalen Konsultation gestellt werden, läuft – das muss man ganz klar sagen – den Absichten der Kommission zuwider. Wir vertreten ganz klar den Standpunkt, dass wir keine verpflichtende Ansiedlung von Migranten in unserem Land möchten, da diese nach unserer Ansicht mit den Gründungsverträgen der Europäischen Union nicht vereinbar ist. Mit wem sie zusammenleben möchten, sollten die Bürger Ungarns selber entscheiden können. Es ist eine wichtige Information, dass George Soros und seine Nichtregierungsorganisationen jährlich eine Million Migranten in die Europäische Union bringen möchten. Dieses Programm hat er persönlich öffentlich angekündigt, und er hat dazu auch ein Gelddarlehen angeboten. Darüber haben Sie mit Sicherheit auch gelesen. Diesen Vorschlag lehnen wir ab. Wir wollen auch das Recht nicht verlieren, die Gebühren der öffentlichen Versorger, sowie die Wohnnebenkosten in nationaler Befugnis behördlich festsetzen zu dürfen, denn wir befürchten, dass dies zu einer Mehrbelastung der Bevölkerung und erneut zu massiven Preissteigerungen führen würde. Darunter haben die Familien in Ungarn schon genug gelitten. Und wir wollen auch das derzeit in nationaler Kompetenz verankerte Recht der Steuerfestsetzung nicht an die EU abgeben, weil dies nach unserer Meinung unsere Wettbewerbsfähigkeit verschlechtern würde. Wir verstehen auch nicht, dass im Jahresbericht der Kommission jedes Mal unser Programm für öffentliche Arbeiten kritisiert wird, welches ein wichtiger Bestandteil einer ausgeprägten arbeitsbasierten und nicht auf Sozialhilfen gestützten Gesellschaft ist. Das sind die Streitpunkte der aktuellen Debatte, in welchen wir keine Änderungen wollen. Wir wollen keine Umverteilung der nationalen und europäischen Kompetenzen in diesen Angelegenheiten, wir treten also für die Beibehaltung des gemeinsam errichteten Status quo ein. Daher auch der Name „Stoppen wir Brüssel!”. Das ist doch kein Verbrechen! Gemeinsam haben wir die geltenden, von uns verteidigten Regelungen verabschiedet. Die Regelungen, die wir nun verteidigen möchten, gehören auch zum gemeinsamen europäischen Besitzstand. Deswegen kann man den ungarischen Standpunkt und die ungarische Konsultation nicht als europafeindlich bezeichnen. Es steht auch fest, und ich möchte es gar nicht abstreiten, dass unsere Vision von Europa ein starkes Europa starker Mitgliedstaaten vorsieht. In einem solchen Europa tragen die Mitgliedstaaten selbst die Verantwortung, und sie wälzen diese nicht auf andere ab. Sie sind verantwortlich für die Staatsschulden, den Staatshaushalt und den Grenzschutz.

Sehr geehrte Abgeordnete!

Wir möchten hier durch Debatten, durch Argumente und durch Instrumente der Überzeugung zur Entscheidungsfindung beitragen. Ich schlage vor: Wem der Standpunkt unseres Landes nicht gefällt, der soll dem seine Argumente entgegenstellen, und wir sollten unsere Konflikte austragen. Sie sollten uns aber bitte nicht verurteilen, nur weil Ungarn seinen eigenen, eigenständigen Standpunkt vertritt.

Sehr geehrtes Haus!

Der dritte Punkt betrifft die Regelung über NGOs. Der unlängst diskutierte Entwurf, ich meine den in Ungarn diskutierten Entwurf, folgt dem amerikanischen Modell. In vielen Ländern der EU und, soviel ich weiß, auch hier im Parlament, wird aufgrund des Pieper-Berichtes die komplexe Frage diskutiert, wie man die Tätigkeit der kapitalstarken externen ausländischen Lobbys, die auf die demokratische Entscheidungsfindung Einfluss nehmen möchten, für alle transparenter machen könnte. Das ungarische Gesetz stützt sich auf das Prinzip der Transparenz. Wir wollen nichts anderes, wir wollen hinsichtlich der NGOs nur wissen, was für Finanzen und welche Interessen jeweils hinter ihnen stehen. Dadurch wird das in der Verfassung verankerte Recht nicht eingeschränkt, die eigene Stimme hören zu lassen, die eigenen Interessen zu vertreten, und sich frei zu organisieren.

Sehr geehrte Abgeordnete!

Ich möchte hier auch festhalten, dass das Verhalten der ungarischen Regierung bis jetzt ohne Abstecher war, sie ist in ihrem Verhalten stets konsequent geblieben. Wir wollen uns an die Spielregeln im Klub halten, und wir haben sie schon immer eingehalten. Es ist für mich klar, dass sich mit der Mitgliedschaft in der Europäischen Union nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten verbinden. Wir waren bestrebt, Konflikte in den letzten Jahren durch Dialog und Gespräch zu schlichten. Es ist für mich eine Freude, verkünden zu dürfen, dass es uns auf diese Art und Weise gelungen ist, komplizierte Streitfragen wie das Mediengesetz, die neue ungarische Verfassung, die Reform des Justizwesens oder der Ausbau der Kernenergie einer einvernehmlichen Lösung zuzuführen. Diese sind Fragen, die erfolgreich ad acta gelegt werden konnten. Ich möchte dem Herrn Vizepräsidenten versichern, dass wir dies auch in den vorliegenden Fragen anstreben.

Hohes Haus!

Ungarn ist ein stolzes Land. Die Ungarn hielten sich schon immer für eine Nation, die in Europa eine wichtige Rolle spielt und sich den christlichen Werten Europas verpflichtet hat. Sie wollten schon immer bei Entscheidungen mitreden, die sie betreffen. Meine Regierung setzt sich dafür ein, das Engagement Ungarns für die Europäische Union zu stärken. Und unsere Arbeit ist erfolgreich. Unter den Mitgliedstaaten findet die EU gerade in Ungarn am meisten Zuspruch, er liegt bei über 70 Prozent. Wir sind stolz darauf. Glauben Sie mir, die Menschen befürworten die Europäische Union nur dann, wenn sie auf faire und offene Debatten gestützt ist, und in der Lage ist, sich von Zeit zu Zeit einen gewissen Reformbedarf einzugestehen.

Sehr geehrter Herr Präsident!

Wir haben Ihnen schon immer Respekt entgegengebracht. Wenn es um Ungarn geht, seien Sie bitte kritisch gegenüber den Vorurteilen, und bestehen Sie auf der Wahrheit. Und ich bitte Sie, immer mit gleichem Maß zu messen. Nur so sind wir alle würdig, den Namen Europas zu führen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!