Wir haben sie noch verstanden, und sie hat noch uns verstanden. Sowjetische Besatzung, kommunistische Diktatur, Widerstand und Volksbewegungen 1988-89, Sieg, Freiheit, Widervereinigung und der Spitzenkanzler, Helmut Kohl, der neue Staatsgründer.
Als ungarischer Ministerpräsident durfte ich 1998 für einige Monate gemeinsam mit Helmut Kohl im Dienst sein, der der väterliche gute Freund, christliche Bruder und treue Patron der mitteleuropäischen Völker war.
Wir haben mit Merkel auch Jahre hindurch das bittere Brot der Opposition gegessen. Dann ist zuerst sie, dann fünf Jahre später sind wir an das Regierungsruder zurückgekehrt. Wir haben gemeinsam 2010 das finanzielle Krisenmanagement durchgemacht, wir waren Mitstreiter im Kampf um das Zusammenhalten der Europäischen Union, und wir mussten gemeinsam, ohne etwas unternehmen zu können und ohne über die entsprechenden Instrumente verfügen zu können, dem Ausbruch des für Europa tragischen russisch-ukrainischen Kriegs zusehen.
Die loyalen und disziplinierten Deutschen, die rebellischen und unmäßigen Ungarn für ein gemeinsames Ziel, ein Europa, in dem sich jede Nation zu Hause fühlen kann.
Und dann der Riss oder vielmehr der Bruch, der offene Bruch 2015, die Migrationsinvasion. Jene Art von Verletzung, nach der die Bewegungen des Sportlers nicht mehr so sein werden, wie sie es gewesen waren. Er macht die Rehabilitation, strengt sich an, kämpft, aber vielmehr als eine Frage der Ehre, er weiß und nach einiger Zeit gibt er es zu, er kann seine alte Form nicht mehr zurückgewinnen.
Die Migrationskrise war an sich schon eine ernsthafte Probe. Sie wurde deshalb zum Rubicon, da sie die zwischen uns bestehenden tiefen philosophischen, politischen und emotionalen Unterschiede hinsichtlich der Nation, der Freiheit und der Rolle Deutschlands aufdeckte.
Es stellte sich heraus, dass für die Ungarn und andere Mitteleuropäer die Heimat immanent, die Nation der Ausgangspunkt ist, ohne Heimatliebe gibt es kein gesundes emotionales Leben. Es stellte sich heraus, dass die Deutschen einen anderen Pfad der europäischen Zivilisation beschreiten, in Richtung auf irgendeinen nachchristlichen und postnationalen Zustand.
Wir, Ungarn, haben verstanden, dass die Deutschen dies nicht für ein Problem, nicht für ein Übel, nicht für eine zu heilende zivilisatorische Krankheit halten, sondern für einen natürlichen, ja wünschenswerten, ja vielmehr für einen moralisch höherwertigen Zustand halten. Das Gewebe der europäischen Einheit wurde fadenscheinig, es gab kein Halten mehr. Migration, Gender, föderalisierte Europäische Union, die Germanisierung Europas. Die Wiederherstellung der europäischen Zusammenarbeit wird dann in der postmerkelschen Ära übermenschliche Kraftanstrengungen erfordern.
Hat Angela Merkel die Tür für die Übel geöffnet? Oder im Gegenteil: Hat sie versucht, sie eher zuzudrücken, doch wurde auch sie durch den Druck der Linken beiseitegeschoben? Heute kennen wir die Antwort auf diese Frage noch nicht. Angesichts des auf der Seite der Migranten stehenden, genderfreundlichen, föderalistischen, auf ein deutsches Europa abzielenden Programms der neuen, linken deutschen Regierung, sind beide Lösungen des Merkel-Geheimnisses möglich. Die Zeit wird dann dies beantworten. Als einstiger Mitstreiter bedauere ich nur, dass weder der Lebensweg noch die 16 Jahre Kanzlerschaft auch uns, Kollegen, keine Antwort geliefert haben. Eine Sache ist sicher, das Zeitalter der Zweideutigkeit, der schleichenden Politik und des Sich-treiben-lassens ist mit Merkel zu Ende gegangen. Es kommen neue Zeiten, mit offenem Visier.