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Viktor Orbáns Festrede auf der Gedenkfeier zum 200. Jahrestag der Entstehung der Hymne

Exzellenzen und hochwürdigste Herr Bischöfe! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Ungarn!

Die Hymne habe ich zuletzt vor fünf Tagen gesungen. Wir standen in Losonc, bei der Aufbahrung von Miklós Duray, unseres unsterblichen Freundes. Ungarn aus allen Teilen des Karpatenbeckens, zumeist natürlich aus dem Oberland und aus Kleinungarn. Wir standen da und sangen. Nicht als Abschied. Nicht, um uns von unserem Freund zu verabschieden. Wir sangen, um ihn in die Ewigkeit zu erheben, ihn in das Pantheon der Ungarn zu heben. Für alle der vielen hundert zusammengekommenen Ungarn war es offenkundig, dass das notwendige Instrument für dieses Erheben nur unser nationales Gebet sein kann. So wie das auch mit unseren auf dem olympischen Siegerpodest stehenden Landsleuten oder als Respektsbezeugung vor unseren an unseren nationalen Feiertagen in Erinnerung gerufenen großartigen Vorfahren geschieht. Auch in einer tausendjährigen Perspektive gibt es kein anderes Stück der ungarischen Kultur, das unser Herz auf die Weise erheben könnte, wie unsere Hymne. Wenn wir die unmögliche Aufgabe erfüllen wollten, in ein einziges Werk all das zu konzentrieren, was ungarisch ist, genauer was den Ungarn zum Ungarn macht, dann müssten wir die Hymne wählen. Deshalb ist es würdig und recht, dass der Tag der ungarischen Kultur der Tag der Geburt der Hymne sein soll.

Sehr geehrte Feiernde!

Und dann erklang dort an der Bahre in Losonc Vers 28 von Kapitel 21 des Lukasevangeliums. „Das Wort Jesu sagt uns:” – sprach der hochwürdige Herr – „seht auf und erhebt eure Häupter.” Und so taten wir es auch. Und obwohl der Gattung nach die Hymne ein Gebet, eine Bitte und eine Jeremiade ist, und so die tiefe und ernsthafte Körperhaltung der reuigen Untertänigkeit erfordern würde, singen wir die Hymne dennoch nicht kniend und vor allem nicht mit hängendem Kopf. Ganz im Gegenteil: Gerade, unerschütterlich stehend, beinahe wild und immer mit erhobenem Haupt.

Sehr geehrte Feiernde!

Es gibt Werke, die ohne die Kenntnis ihrer Verfasser nicht deutbar sind. Werke, die ohne den Höhenflug des Geistes des Verfassers oder die Tiefen seiner Gefühle hohl klingen. Werke, und häufig auch Perlen der ungarischen Literatur, die der Verfasser aus sich selbst, seinem Körper und Geist mit Hilfe seiner Feder hervorruft. Gedichte, zu denen den Weg die Dichter verstellen und wir nur über sie in ihre Nähe gelangen können. Er schrieb es, er dichtete es, seine Botschaft trägt es. Die Hymne ist nicht dieser Art. Wenn wir sie lesen, sehen wir nicht Kölcsey vor uns. Wir verstehen hinter den Versen nicht seine persönlichen Mahnungen. Und obwohl wir den lieben Gott anreden, wenn wir sie hören oder singen, trotzdem erfüllt nicht er unsere Vorstellung. Nicht die Gestalt des Dichters und des lieben Gottes entfaltet sich vor uns aus dem Nebel der Geschichte, sondern jenes rätselvolle, unfassbare und unbegrenzbare etwas, das wir als Ungarntum, genauer als das ungarische Schicksal und den ungarischen Genius bezeichnen können. Jene Form und Qualität der Schöpfung, der Existenz, zu der nur wir, Ungarn, in der Lage sind. Auch andere zimmern herrliche Gebäude, erbauen Städte, schreiben Gedichte, komponieren Werke, singen ihre Lieder und tanzen ihre Tänze, aber niemand jene und niemand so wie wir, Ungarn, das tun. Während wir das Gedicht von Kölcsey lesen oder die Melodie von Erkel singen, vergessen wir sie, denn wir erblicken und verstehen etwas Wichtigeres. Wir haben das Gefühl, dass die uns zugedachte Botschaft irgendwo aus der Tiefe des Brunnens der Geschichte zu uns heraufsteigt. Als ob es die Botschaft von hunderten von Generationen, von unseren ersten Ahnen, den hier vor uns lebenden Ungarn, die im Nebel der Geschichte verschwinden, die alle bisher jemals gelebten Ungarn umfassende Botschaft wäre, die nicht nur an uns gerichtet ist, sondern auch auf das Herz aller im Weiteren auf die Welt kommenden Ungarn zielt.

Sehr geehrte Feiernde!

Die Hymne erinnert uns daran, dass auch wir, Ungarn, so wie jedes christliche Volk, das versteht, was die Sünde und was die Verzeihung ist, gute Gründe zur Buße besitzen. Ja, auch wir, Ungarn, sind nicht ohne Sünde. Unsere Fehler und Mängel sind zahlreich. Die Frage ist nur, was wir mit dieser Erkenntnis, diesem Bekenntnis machen? Sollen wir uns vielleicht in der Mitte des Fußballfeldes niederknien? Oder sollen wir die Denkmäler unserer großen Vorfahren umstoßen? Sollen wir unsere tausendjährige Kultur verwerfen und sie auslöschen? Oder sollen wir zulassen, dass selbsternannte, heimatlose und liberale Zensoren die ungarische Geschichte aussieben und umschreiben? Kölcsey sagt etwas anderes. Es brachte den wichtigsten Satz der ungarischen historischen Literatur zu Papier: „dies Volk hat schon für die Vergangenheit und die Zukunft gebüßt.” Mit christlichen Augen gelesen ist das kein Bonus, kein Freifahrschein oder kein Freibrief für den Fall, weitere Sünden zu begehen. Mit einer christlichen Seele bedeutet dieser Satz so viel, dass zwar die Zahl und das Maß unserer Sünden hoch sein mögen, doch hat uns der liebe Gott dennoch nicht vom Angesicht der Erde weggewischt. Wenn er uns auch bestraft hat, so erlaubt er es, uns unsere Geschichte fortzusetzen. Der einzige Grund dafür kann sein, dass auch unsere Tugenden und Verdienste hoch an der Zahl sind, d.h. wir haben es verdienen können, eine Zukunft besitzen zu dürfen. Es gab viele Völker, über deren Schicksal der Herr der Geschichte auf andere Weise verfügte und es scheint, dass es auch jetzt solche gibt, die zum Verschwinden verurteilt sind und sich gerade dies an ihnen vollzieht. Und wenn es wahr ist, dass unser Erhaltenbleiben nicht vom blinden Schicksal abhängt, sondern das Ergebnis der mit Gottes Hilfe ausgefochtenen politischen, militärischen und geistigen Auseinandersetzungen ist, dann sollten wir auch die Antwort auf die Frage suchen, wodurch wir es verdient haben, dass noch immer wir die Mitte des Karpatenbeckens bewohnen und noch immer all das uns gehört, was aus ihm hervorgewachsen ist. Und das ist auch dann noch wahr, wenn sich gegenwärtig das an den Rhythmus des sich zusammenziehenden und weitenden Herzens anpassende Ungarn im Zustand des Zusammenziehgens befindet. Niemand kann behaupten, er wisse mit Sicherheit, wodurch wir dies verdient haben. Es mag vielmehr so sein, dass es das Recht und vielleicht auch die Pflicht jeder Generation ist, ihre eigene Antwort zu finden. Und diese Antwort kann wohl kaum von jenen Gefahren getrennt werden, die gerade das Leben der Ungarn bedrohen.

Vor dreißig Jahren hatte ich gedacht, dass die nie erlahmende Sehnsucht der Nation nach Unabhängigkeit unser Verdienst war. Zum Preis des Lebens unserer der unter den hier geführten blutigen Bannern der Freiheit gefallenen Besten haben wir das Recht zum Überleben errungen und bekamen das Erhaltengebliebensein als Belohnung. Jetzt, dreißig Jahre später denke ich dies immer noch. Doch glaube ich auch, dies wäre an sich allein nicht genügend gewesen. Notwendig war auch, dass wir unsere Freiheitskämpfe nicht einfach nur im Interesse der politischen Unabhängigkeit, der wirtschaftlichen und machtpolitischen Selbstbestimmung geführt haben. Unsere größten Kämpfe haben wir manchmal mit friedlichen, ein anderes Mal mit kriegerischen Mitteln tatsächlich immer dafür geführt, damit wir jene bleiben konnten, die wir sind. Damit wir so leben können, wie wir es wollen und nicht so, wie andere es uns vorschreiben. Die Osmanen sagten, wer ein Rechtgläubiger und wer ein Giaur war, die Habsburger, wer ein guter Christ, die Deutschen, mit wem wir zusammenleben dürfen und mit wem nicht, die Sowjets wollten uns dazu zwingen, statt Ungarn lieber Proletarier der Welt zu sein, mit denen wir uns dann vereinigen können. Und die Brüsseler Bürokraten wollen uns zu liberalen Weltbürgern ummontieren statt unserer aus der Mode gekommenen ungarischen Form. Wir haben immer widerstanden, haben sie immer überlistet, haben immer die Pfade unseres eigenen Lebens gefunden. Auch wenn man es nicht öffentlich auf die Flagge schreiben durfte, wusste ein jeder, dass wir die sind, die wir sind, und jene sein werden, die wir sind. Wenn es eine Tugend gibt, die den Lohn des Überlebens verdient, dann ist das nichts anderes als das Festhalten an uns selbst. Deshalb können uns auch heute nicht jene Sirenengesänge in die Falle locken, die uns verführen – wie sie es sagen – uns auf die richtige Seite der Geschichte zu stellen. Deshalb torkeln wir nicht in den Strudel des immer blutiger werdenden Krieges hinein, deshalb wollen wir eine Feuerpause, Verhandlungen und Frieden. Die Ungarn haben gelernt, dass die richtige und die falsche Seite der Geschichte jene Großmächte bestimmen werden, die am Ende triumphieren und sie wird nicht im Geringsten interessieren, was für die Ungarn gut oder schlecht ist. Deshalb müssen wir selbst in den kompliziertesten und schwierigsten Situationen auf der ungarischen Seite der Geschichte verbleiben.

Sehr geehrte Feiernde!

Die unerlässliche Vorbedingung für das Erhaltenbleiben ist die richtige Selbstkenntnis, das Selbstwertgefühl: weder zu viel noch zu wenig. Dies gilt besonders für uns, Ungarn. Wir sind ein besonderes Volk. Andere Völker sind stark oder schwach, reich oder arm, klein oder groß, frei oder unterdrückt. Unser Wesen, unsere nationale Existenz kann man so nicht bestimmen. Man kann es nicht, denn obwohl wir von allen Seiten von Festland umgeben sind, sind wir in Wirklichkeit ein Inselland. Vor tausendeinhundert Jahren sind wir hierhergekommen, haben unsere Siedlungsgebiete festgelegt, zwischen Fremden und durch sie bedrängt. Im Schatten von Größeren haben wir unseren Staat eingerichtet und die ungarische Ordnung des Lebens ausgeformt. Und halten sie auch seit dem, mehr als tausendeinhundert Jahre aufrecht. Wir sprechen unsere für alle anderen unverständliche Sprache. Wir schreiben unsere für andere unzugänglich tiefe und hohe Literatur, und wir navigieren unsere Heimat mit einer für andere nicht nachvollziehbaren Denkweise im europäischen Wellengang. Ungarn ist, so wie vor zweihundert Jahren, an dem Tag, an dem die Hymne entstand, noch immer ein ungarisches Land. Wir sagen, wer hereinkommen darf, wer hierbleiben darf, wer mit uns leben darf und wer nicht. Und wir möchten auch bestimmen, wie sich unser Leben mit dem unserer Nachbarn verbinden darf. Wir sind nicht besser oder schlechter, sondern anders, und diese Andersheit gibt die ungarische Kultur, deren Feiertag heute ist. Von hier aus, aus Szatmárcseke in Hunnien senden wir auch unsere Grüße und unsere Anerkennung an die pannonische Stadt Veszprém und seiner Bevölkerung, die ab heute die Kulturhauptstadt Europas ist – die alte These von József Antall beweisend, nach der wir Ungarn sind, also Europäer.

Sehr geehrte Feiernde!

Ich wollte Ihnen heute sagen, dass die Botschaft und den tieferen Sinn der Hymne für uns Vers 28 von Kapitel 21 des Lukasevangeliums beleuchtet. Es sind Verse, die zusammengehören, als hätte der gleiche Geist sie verfasst: Dies Volk hat für die Vergangenheit und Zukunft schon gebüßt, seht auf und erhebt eure Häupter. Wir sind die Ungarn, die nicht schlechter als andere Völker sind und auch nicht sein werden und wir sind mit unserem eigenen besonderen Wesen ein mindestens so gutes, braves und ehrenhaftes Volk wie jedwedes andere. Das andere, alles andere ist Sache des lieben Gottes. Wir werden dann sehen, wer nach weiteren zweihundert Jahren noch auf den Beinen sein wird und welche Völker der Herr der Geschichte dann aussieben wird. Bis dann auch ist der liebe Gott über uns allen, Ungarn über allem, vorwärts Ungarn!