Katalin Nagy: Wie wir in den Nachrichten haben hören können, verbessert sich in Europa die Epidemielage nur in Norwegen. In unserer unmittelbaren Umgebung, in Österreich ebenso wie in Kroatien, verschlechtert sie sich. Ich begrüße im Studio Ministerpräsident Viktor Orbán! Ist es möglich, dass weitere Schutzmaßnahmen, beschränkende Maßnahmen notwendig werden? Wie sehen Sie es?
Guten Morgen! Sie werden notwendig sein. Dies war auch ein besonderer Tagesordnungspunkt auf der Sitzung der Regierung diese Woche, und wir haben eine unmittelbare Verbindung mit den Österreichern und den Kroaten ausgebaut, denn – wobei ich natürlich den Hut vor Ihrem Beruf ziehe – man darf sich in solchen Angelegenheiten doch nicht nur auf Presseinformationen verlassen. Hinzu kommt noch, dass die Kroaten ihre Touristiksaison zu retten versuchen, weshalb sie regelmäßig deutende, eigene Daten beinhaltende Papiere verschicken, aber die sehen auch nicht viel besser aus als die Pressemeldungen. Die Situation ist also die, dass im Vergleich zu den ungarischen Zuständen sich in den meisten Ländern die Situation verschlimmert, und deshalb ist unsere frühere Behauptung, nach der für Ungarn jetzt das Hereinschleppen der Ansteckung die größte Gefahr darstellt, nicht nur gültig, sondern gültiger als sie es früher war. Wahr ist auch, dass wir jetzt Sommer haben, Freizeit, Urlaub, aber damit ist es bald vorbei und es beginnt die Schule, und vom Gesichtspunkt der Familien aus ist es am wichtigsten, dass die Schulen und die Kindergärten ihre gewohnte Arbeit, ihr Wirken in Ordnung aufnehmen können. Ich habe die Umstellung auf das digitale Unterrichten in der ersten Phase der Epidemie als erfolgreich empfunden, vielleicht sogar als erfolgreicher als erwartet, doch sollten wir nicht glauben, dies besäße keine Schattenseiten, denn obwohl es verschiedene Schätzungen gibt – wir beschäftigen uns damit, dies zu erfassen –, doch sind meiner Ansicht nach mehr als zehn Prozent der Schüler einfach aus dem System verschwunden, sie haben sich also nicht eingeschaltet, haben nicht oder nur von Zeit zu Zeit am Unterricht teilgenommen, und meiner Meinung nach sind die Unterschiede als das Ergebnis des digitalen Unterrichts größer als wenn wir unsere Kinder gemeinsam im Klassenzimmer hätten. Und jetzt, wo im September die Schule wieder beginnt, wird der Unterschied im Wissensstand jeweils innerhalb einer Klasse vermutlich größer sein als vor dem Ausbruch der Epidemie. Es wird also eine fachlich ernsthafte Herausforderung für unsere Pädagogen sein, erneut die einheitliche Arbeit in der Klasse herzustellen. Ich glaube daran, dass sie dieser Aufgabe gewachsen sind, aber sie werden es nicht einfach haben. Ich möchte damit also nur sagen, wir sollten nicht so auf den digitalen Unterricht blicken, wie in dem Sketch mit den beiden Clowns, in dem es heißt: „Es gibt ein anderes!“ Als ob – wenn das ordentliche System nicht funktioniert – wir das andere hervornehmen könnten, und das ist genauso gut wie das vorherige. Es ist nicht genauso gut. Es mag sein, dass es eines Tages genauso gut sein wird, ich will nicht sagen, es gäbe hier keine gewaltigen Möglichkeiten zur Entwicklung, doch kann unseren Erziehungs- und pädagogischen Zielen am ehesten das auf der persönlichen Begegnung basierende Unterrichtssystem eher dienen als der digitale Lösungsweg. Dieser stellt nur eine Reserve dar. Wir sollten also alles im Interesse dessen unternehmen, damit wir den von der gewohnten Weise abweichenden Unterricht vermeiden können und unser auf traditionelle Klassen und die Anwesenheit in der Schule basierendes Unterrichtssystem schützen. Deshalb müssen wir alles gegen die Einschleppung der Epidemie unternehmen. Wir haben auch allerlei Entscheidungen getroffen…
Demnach wird es geschlossene Grenzen geben oder sagen wir lieber, jetzt sollen die Staatsbürger besser nicht ins Ausland fahren? Kann es vorkommen, dass – genauso wie in Österreich, Frankreich oder Spanien – jene bestraft werden, die auf der Straße oder an jenen Orten, wo dies vorgeschrieben ist, keine Maske tragen?
Meiner Ansicht nach sollten wir zuerst von unseren eigenen Erfahrungen ausgehen, das ist das wichtigste, und danach sollten wir auf die Erfahrungen unserer Nachbarn, der Österreicher zurückgreifen. Bis jetzt sind wir so vorgegangen, und diese Arbeitsweise war erfolgreich. Erinnern wir uns daran, dass wir Grund haben, unseren eigenen Erfahrungen zu vertrauen, denn nach dem Ausbruch der Ansteckung, sagen wir in ihrer ersten Phase, ist es in Ungarn gelungen, das Leben von zehntausenden Menschen zu retten, und das ist keine theoretische Frage, denn wir haben ja gesehen, dass es in Westeuropa nicht gelungen ist, das Leben von zehntausenden von Menschen zu retten. Und hier ist es gelungen. Also war die Verteidigung erfolgreich. Wir besitzen ein Wissen darüber, wie man das gut machen muss, selbst wenn wir uns damals innerhalb von wenigen Tagen ordnen mussten, so hat sich doch eine Erfahrung angesammelt. Wir wissen also genau, wie wir es im März gemacht haben, wie wir es angefangen haben, was sich auf welche Weise bewährt hat. Jetzt müssen wir also, wenn wir an den Zeitraum nach dem September denken, in erster Linie auf diese Erfahrungen aufbauen. Und am wichtigsten ist, während man durch die moderne Welt mit hunderttausenden von Informationen überflutet wird, das Wesentliche von dem Unwesentlichen unterscheiden zu können. Die Zahl der Infektionen ist natürlich nicht unwesentlich. Es ist gut zu wissen, wie genau sich dieses Virus verbreitet oder wie es gelungen ist, es aufzuhalten. Doch das Wesentliche, das Wichtigste, das Entscheidende ist, dass wir Menschenleben retten, dass die Leute nicht sterben. Es ist also in erster Linie die Zahl der Verstorbenen, die ich betrachte, denn von der Krankheit kann man genesen. Es ist sicherlich nicht angenehm, diese Coronainfektion quält den Menschen, doch sind sehr viele davon genesen. Wir müssen auch weiterhin sehr auf jene achten, die dies umbringen kann, die nicht nur ins Bett müssen, sondern deren Leben es ganz einfach nehmen kann – diese sind unsere Eltern, unsere Großeltern und die Alten –, denn die Lehre aus dem ersten Zeitraum der Verteidigung ist, dass die Alten am meisten ausgeliefert sind. Wir müssen alle unsere Aufmerksamkeit darauf richten, auch bei aller Wichtigkeit von Kindergarten und Schule. Die zweite Sache ist nun, dass man gegen das Hereinschleppen auftreten muss. Im Laufe des Sommers sind wir zu einem neuen System übergegangen, Sie hatten mir erlaubt, dies hier im Rundfunk darzulegen. Rot, gelb, grün usw. Das war auch gut, und so viel war es eben. Meiner Ansicht nach wird dieses System also ab September nicht mehr funktionieren. Es sind noch einige Tage vom Urlaub übrig, und ich rate einem jeden, der sich das Meer anschauen möchte und dies tun kann, sich jetzt das Meer anzuschauen, denn ab dem 1. September…
Wenn es unbedingt sein muss…
…ab dem 1. September kommt schon eine andere Welt. Ich sage also nicht, „alles zu“, aber ein dem nahe kommender Zustand wird sich einstellen. Ab dem 1. September, sobald die Schule beginnt, wird man jenes System der Grenzübertritte nicht mehr aufrechterhalten können, mit dem der Operative Stab den Sommer meiner Ansicht nach ganz gut und geschickt gemanagt hat. Es werden also Restriktionen kommen. Ich kann und will auch gar nicht in die persönliche Lebensführung, die Gepflogenheiten, die Urlaubspläne der ungarischen Menschen hineinreden, doch mit der notwendigen Vorsicht und dem notwendigen Respekt bitte einen jeden darum, für den Zeitraum nach September keinen großen Urlaub Richtung Süden zu buchen, zu organisieren, sich vorzustellen, denn das wird mit den Maßnahmen zum Grenzschutz kollidieren.
Wir kennen die Daten von gestern, die Zahl der aktiv Infizierten ist um 44 Personen gestiegen. Wenn diese Zahl anwächst, ist dann das Gesundheitswesen darauf vorbereitet, diese Menschen zu versorgen? Wir wissen, dass zum Glück jetzt etwa sechzig-siebzig Menschen sich im Krankenhaus befinden, nur sechs-sieben Menschen sind auf ein Beatmungsgerät angewiesen.
Als die Epidemie ausbrach und plötzlich ein jeder – mich eingeschlossen – zu einem Experten, einem Wissenschaftler für Epidemiologie geworden war, also man hierüber nachschlug, las, und das Gefühl hatte, jetzt bereits alles zu wissen, worüber sich dann natürlich herausstellte, dass man gar nichts weiß, wie das in der Wissenschaft häufig zu sein scheint, je mehr man liest, umso mehr hat man das Gefühl, wenig zu wissen, also nachdem ich die ersten einigen hundert Seiten über die Natur dieser Epidemie lesen konnte und in der glücklichen Situation war, dass mir in Ungarn das Wissen aller klugen Menschen beinahe unbegrenzt zur Verfügung stand, wen immer ich auch angerufen habe, Virologen, Forscher, Professoren, Ärzte, sie standen mir sofort zur Verfügung, ich bin ihnen dafür auch dankbar, die Kultur des Dienstes am Land und an der Nation ist in dieser sich mit dem Gesundheitswesen beschäftigenden wissenschaftlichen und ärztlichen Welt äußerst stark, was meiner Ansicht nach auch eine Voraussetzung für die erfolgreiche Verteidigung ist, es handelt sich bei ihnen nicht nur um gute Fachleute, sondern auch Menschen mit einem großen Herzen, die wissen, was man in so einer Situation tun und wie man sich verhalten muss. Sie haben hier auf zeitweilig ganz rührende Weise versucht, alles im Interesse dessen zu tun, um das Leben der Menschen zu retten. Also stand uns alles Wissen zur Verfügung, und das haben wir auch zusammengetragen, und wir haben gesehen: So lange es keinen Impfstoff geben wird, wird diese unsichere Lage auch erhalten bleiben. Jetzt gibt es schon Nachrichten über den Impfstoff, über die Impfstoffe, ich habe ja geahnt, dass wenn der erste Impfstoff erscheint, dann wird die Welt nicht erleichtert sein, denn wir leben jetzt in so einer verrückten Welt, sie wird also nicht erleichtert sein und es werden nicht alle dem zu helfen versuchen, der zuerst in die Nähe des Impfstoffs gelangt ist oder von sich behauptet, bereits am Ziel angekommen zu sein, ihn zu erfinden, sondern es begann sofort die Attacke, die Kritik der geschäftlich motivierten Mitbewerber. Wir wissen jetzt, dass es nicht einen Impfstoff geben wird, sondern zwei, jeder wird seinen eigenen anbieten und anpreisen. Es wird hier also einen Stimmenwirrwarr wie auf dem Markt, wie auf dem Jahrmarkt geben. Doch wie auch immer es sein mag, von diesem Stimmenwirrwarr ist das Wichtige, dass die Welt der Entdeckung des Impfstoffes näher ist als sie noch vor einigen Monaten es war. Wir sind also guter Hoffnung, dass irgendein Impfstoff von irgendwelcher Qualität, von irgendwelcher Effektivität, der irgendeinen Schutz bietet, auch massenhaft zugänglich sein wird. Ungarn hat seine Fühler in alle Richtungen ausgestreckt, genauso wie wir das im Frühjahr getan hatten. Es ist ja ein wiederkehrendes Thema der politischen Debatten, ob unsere Einkäufe zweckmäßig waren, ob sie an den entsprechenden Orten getätigt worden sind, ob sie ein gutes technologisches Niveau besaßen usw., ob sie zu einem angemessenen Preis geschahen. Ich sage auch jetzt, dass wir, wenn man dreimal so viel hätte zahlen müssen, dreimal so viel für die Beatmungsgeräte und die Schutzausrüstungen gezahlt hätten, denn wenn es um das Leben der ungarischen Menschen geht, dürfen wir natürlich nicht unseren nüchternen Menschenverstand verlieren, doch muss man in so einer Situation alles unternehmen. Und deshalb haben wir um den März-April herum einen sehr ernstzunehmenden Instrumentenpark, einen zur Verteidigung notwendigen Instrumentenpark aufgebaut, den wir dann im Herbst werden nutzen können, Ungarn soll also, ein jeder soll also ruhig schlafen – alle Instrumente stehen zur Verfügung. Ja, Dank László Palkovics, der in Zusammenarbeit, ja in hervorragender Zusammenarbeit mit Miklós Kásler diese Konzeption geschaffen hat, wie man die eigenen Produktionskapazitäten, industrielle Kapazitäten ausbauen kann, damit wir das nächste Mal nicht kaufen müssen, sondern möglichst viele Dinge selbst herstellen können. In der Herstellung von Beatmungsgeräten gehören wir zum Beispiel schon zur technologischen Weltspitze mit unseren eigenen Geräten, und es wird einen Moment geben, in dem wir in Ungarn bereits jedes einzelne Beatmungsgerät zu Hause produzieren, zu Hause instandhalten, es wird eine eigene Entwicklung sein, usw. usf. Aber was ich sagen will, ist, dass das Land gute Gründe hat, damit wir die zweite Welle des Virus in einem viel ausgewogeneren seelischen Zustand erwarten können, als wir es im März getan hatten.
Doch ist einem nicht gerade die Ruhe in die Glieder gefahren, als in der letzten Woche die Zahlen des GDP im zweiten Quartal herauskamen. Sie haben es auch gesagt, die Experten haben es auch gesagt, dass das zweite Quartal, also dieser ominöse Zeitraum von April, Mai und Juni sehr schlecht sein wird. Im europäischen Vergleich liegen wir mit dieser Abnahme von 13,5% irgendwo im Mittelfeld. Werden weitere Maßnahmen zum Schutz der Wirtschaft notwendig werden? Oder haben Sie den Eindruck, dass das, was Sie bisher beschlossen haben – und was auch schon Ergebnisse zeigt, denn die Handels- und Industriekammer hat darüber berichtet, sie habe eine Million Arbeitsplätze schützen können und 150 tausend Unternehmen waren von diesen Maßnahmen betroffen –, dass diese Maßnahmen ausreichend sein werden oder wird ab September ein weiteres Paket notwendig werden?
Was haben wir bisher gemacht? Was wir bisher getan haben, hatte als Leitlinie, dass wir die Arbeitsplätze schützen sollen. Ich habe ja hier ausführen dürfen, dass wir davon nicht abweichen werden, wir geben dieses Ziel nicht auf, diese Burg werden wir verteidigen. Es hört sich ja so an, dass so viele Arbeitsplätze das Virus auch vernichtet, wir so viele Arbeitsplätze schaffen werden. Das war ein defensiver Plan, ein Plan zum Schutz der Wirtschaft, das war auch sein Name. Sie erinnern sich vielleicht noch daran, und jene, die in ihm enthalten sind, genießen auch heute noch dessen Vorteile, dass wir ein Moratorium für die Rückzahlung der Kredite eingeführt haben, und dies hat vielen hunderttausend Familien ermöglicht, ihre finanziellen Mittel statt für die Rückzahlung der Kredite lieber für die Stabilisierung der finanziellen Lage der Familie nutzen zu können, und auch die Unternehmer waren in der Lage, ihre Angestellten zu behalten, sie konnten dem Druck der Banken entfliehen. Danach haben wir die Pläne zum Schutz der Arbeitsplätze eingeführt und haben auch die die Schaffung neuer Arbeitsplätze verheißenden Entwicklungspläne gestartet. Das war bisher. Das haben wir als Schutzplan bezeichnet, als Plan zum Schutz der Wirtschaft. Gestern, denn Feiertage sind natürlich Feiertage, doch muss man arbeiten, gestern haben wir am Nachmittag eine wirtschaftspolitische Besprechung mit allen betroffenen Ministern und Fachleuten durchgeführt, auf der ich – das Wort klingt vielleicht etwas profan, denn wir haben ja nicht im Café an der Ecke einen Gespritzten bestellt, sondern – die Anfertigung eines nationalwirtschaftlich bedeutenden Planes angeordnet habe, aber sagen wir es so, wir haben die Bestellung an unsere Fachleute, die gesamte Garde von Experten der ungarischen Wirtschaftspolitik abgegeben, dass sie das, was sie in den vergangenen Wochen und Monaten sich hinsichtlich der Zukunft ausgedacht haben – wir sprechen jetzt nicht mehr über den Schutz, sondern über die Initiierung des Wachstums –, alle in den ministeriellen und Fachwerkstätten angefertigten Vorschläge zusammentragen, und bis Mitte September sollen wir einen logischen, auch viele Dutzende von Maßnahmen beinhaltenden Wachstumsplan haben. Die Verteidigung hat es also gegeben, es ist gelungen, die Arbeitsplätze zu verteidigen, wir haben heute mehr Arbeitsplätze als im Januar, es gibt aber noch nicht so viele wie vor einem Jahr im Juni, denn im Sommer gibt es immer mehr, es gibt also noch Dinge in der Verteidigung zu tun, aber die neue Aufgabe ist die Zusammenstellung des Wachstumsplanes. Ein Wachstumsplan über zwei Jahre ist nötig. Diesen haben wir gut vorbereitet, denn wir haben auch schon einen Teil des für die Verteidigung vorgesehenen Geldes auf die Weise ausgegeben, dass wir daraus kommende Investitionen finanziert haben. Ungarische Investoren haben dies in einer Größenordnung von hundert Millionen in Anspruch genommen, die im Jahr 2021 ihre mit Hilfe dieser Gelder geschaffenen neuen Investitionen bereits starten werden. Doch das Wesentliche ist, dass ich damit rechne, dass bis Mitte September jener das Wachstum für zwei Jahre unterstützende Plan alle notwendigen Foren der politischen Entscheidungsfindung sowie jene der Regierung passiert haben wird, auf Grund dessen wir das letzte Quartal des Jahres 2020 sowie 2021 und 2022 steuern werden.
Wir befinden uns am Wochenende der Feiertage zum 20. August. Dieses heurige Fest der Staatsgründung ist ein besonderes, denn dieses Jahr ist auch das Jahr der Zusammengehörigkeit. Sie haben gestern in Ihrer Festrede dahingehend formuliert, dass es so scheint, es gäbe erneut einen Unterschied zwischen der Wertordnung des Westens und des Ostens, und wir hier in Mitteleuropa müssen irgendwie andere Ziele formulieren als Westeuropa sich selbst formuliert. Wie wird es dann auf diese Weise eine Einheit geben?
Ich würde uns an den Gedanken erinnern wollen, den der Herr Parlamentspräsident mit überzeugender Kraft auf der Sitzung des Parlaments am 4. Juni ausgeführt hat, auf der er sagte, wenn man die Geschichte des ungarischen politischen Denkens überblickt, dann kann man sehen, wie in den vergangenen 100-150 Jahren das auf das öffentliche Recht bezogene Denken in den Vordergrund getreten ist. Der Grund dafür dürfte offensichtlich darin liegen, dass das innerhalb der Österreichisch-Ungarischen Monarchie sich mit den Habsburgern verwirklichende System der Beziehungen ständig Debatten juristischer Natur generierte, und natürlich auch nach dem Verlust der Landesteile, nach Trianon musste das Land neu organisiert werden, was erneut grundsätzlich in der Form des öffentlichen Rechtes Fragen aufwarf, danach kamen die verschiedenen Besatzungen, von denen wir uns befreien mussten, was erneut nur eine Politik mit dem Charakter des öffentlichen Rechtes zum Ergebnis hatte, auch ich bin darin aufgewachsen. In den 1980er Jahren haben wir nur darüber nachgedacht, wie man die Kommunisten auf die Weise stürzen und die Sowjets hinausdrängen könnte, dass möglichst niemand dabei stirbt, keine Menschen getötet werden müssen, und die Möglichkeit gegeben werden soll, irgendwie mit den zwingenden Instrumenten des Verfassungsrechtes, des öffentlichen Rechtes die Sowjets zu verdrängen und die Kommunisten zu stürzen und es soll Freiheit und Demokratie herrschen. Die vergangenen 100-150 Jahre des ungarischen politischen Denkens tragen den Charakter des öffentlichen Rechts. Doch hatten wir auch andere 850 Jahre, in denen es nicht so war, und wir grundlegend über große politische Fragen nachdenken konnten und nicht über Detailfragen des öffentlichen Rechts. Wo ist Ungarn? Wie groß ist Ungarn? Wie groß ist seine Bevölkerung im Vergleich zu der unserer Nachbarn? Ein wie großes Gebiet können wir bewohnen? Ein wie großes Gebiet können wir verteidigen? Wer stellt für uns eine Bedrohung dar? Stellen unsere Nachbarn eine Bedrohung dar? Kann man mit ihnen übereinkommen? Wer sind die am nächsten zu uns liegenden Großen und wollen sie uns auf den Hals treten oder nicht? Und können wir mit ihnen unsere Konflikte vermeiden oder müssen wir die Auseinandersetzungen auf uns nehmen? So wie wir den Kampf gegen die Türken auf uns nehmen mussten, um ein Beispiel zu nennen. Die ungarische Politik hatte also doch auch – wie man auf elegante Weise zu sagen pflegt – eine geostrategische oder geopolitische Dimension. Das ist verschwunden. Wir leben jetzt in Zeiten, in denen diese einen Sinn hat, und ich wünsche mir, dass diese Denkweise zurückkehrt. Denn es ist ja deutlich zu sehen, dass Ungarn sich dort befindet, wo es einst die Landnehmenden ausgebildet haben. Also die Großen, die großen Jungs sind auch weiterhin die Deutschen, die Russen und die Türken, und das Verhältnis zu diesen ist eine Schlüsselfrage. Wichtiger als jedwede Frage des öffentlichen Rechts. Das Verhältnis zu unseren Nachbarn, auf deren Territorium sich ein Teil der abgetrennten Gebiete zusammen mit den dort lebenden Ungarn befindet, ist ebenfalls eine Schlüsselfrage für uns. Keine Frage des öffentlichen Rechts, sondern in vielerlei Hinsicht eine Frage des politischen Willens, der politischen Absicht und der politischen Kraft. Wie ist das Verhältnis zu ihnen? Wir haben zehn Jahre investiert, ich selbst habe persönlich sehr viel Energie investiert, um mit unseren Nachbarn ein Verhältnis zu etablieren, dass man sagen kann: Die Nachbarn Ungarns wollen es nicht isolieren, das war über hundert Jahre hinweg ihre Politik, sondern sie stehen bereit, mit uns zu kooperieren. Dazu mussten auch sie sich verändern, aber auch wir mussten andere Annäherungen anwenden. Deshalb kann man heute sagen, dass wir noch nie – ich sage das im Jahr der hundertsten Wiederkehr von Trianon – ein so gutes Verhältnis zu den Serben hatten, wir können auch in strategischen Fragen übereinkommen, noch nie war unser Verhältnis zu den Slowaken so gut wie jetzt. Das sind fantastische Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre, und das zeigt, wer mit den Ungarn kooperiert oder mit ihnen kooperieren will, der wird auch den Weg dafür finden, ja und er kommt auch auf seine Kosten. Ich glaube also, es hat sich die Möglichkeit des mitteleuropäischen Aufbaus ergeben, und deshalb müssen wir jetzt nicht darüber nachdenken, worüber in den vergangenen 100-150 Jahren die mitteleuropäischen Völker nachgedacht haben, wo sie einen größeren Protektor als sie selbst es sind, finden können, ob sie unter die Achseln der Deutschen oder unter die Achseln der Sowjets rennen oder an der Hohen Pforte klopfen sollen, sondern statt dessen gibt es jetzt die Möglichkeit, zusammenzuarbeiten – anstatt Unterstützer gegen den jeweils anderen zu suchen –, es besteht die Möglichkeit, eine Kooperation zu finden, uns zu organisieren, und diese fantastische Möglichkeit des Lebens, die Mitteleuropa an Wissen, Geist, Energie und Wirtschaftspotential bedeutet, selbstverständlich unter Bewahrung unserer Souveränität, irgendwie gemeinsam zu ordnen. Dazu müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass ein Flaggschiff notwendig sein wird, doch muss man jetzt dieses nicht aus der Ferne rufen, denn es gibt in Mitteleuropa ein Flaggschiff, das Polen heißt. Das ist ein Land mit vierzig Millionen Einwohnern und einer fantastischen Entwicklung, einer ernsthaften Armee und einem gewaltigen wirtschaftlichen Potential sowie weitverzweigten Interessen in dieser Region. Wenn wir unsere eigenen Schiffe, unsere Truppen gut um die Polen herum anordnen, und mit ihnen übereinkommen können, dann wird Mitteleuropa viel eher in der Lage sein, unsere Interessen zu verteidigen, wir werden reicher sein, wir werden uns schneller entwickeln, als wenn wir uns nach äußeren Protektoren umsehen würden. Das ist hier das Dilemma, darüber habe ich versucht auf der Feier zum Tag des Heiligen Stephan zu sprechen, und ich habe versucht, meine Landsleute in der Hinsicht zu ermuntern, dass man sich vor einem Denken in solchen Dimensionen nicht fürchten muss, denn dies haben unsere Vorfahren über 850 Jahre hinweg ziemlich mutig getan.
Noch eine kurze Frage am Ende des Gesprächs. Die nationale Zusammengehörigkeit hat im Grunde genommen ein Ergebnis der nationalen Politik gebracht, dass es jetzt schon deutlich mehr als eine Million von ungarischen Staatsbürgern gibt, die in der Diaspora bzw. außerhalb unserer Landesgrenzen leben, doch ungarischer Herkunft sind. Zugleich wäre es gut zu spüren, wenn wir über den nationalen Zusammenhalt sprechen, dass wir diese Zusammengehörigkeit auf allen Gebieten des Lebens erleben können. Sagen wir zum Beispiel auf dem Gebiet der Kultur war diese Zusammengehörigkeit zuletzt hier einer sehr rüden Attacke ausgesetzt, denn dem Direktor des Nationaltheaters, Attila Vidnyánszky, sandte Ferenc Gyurcsány in seinem Blog die Botschaft, dass wenn die Orbán-Regierung stürzt, dann würden sie und die ihnen ähnelnden zu Vogelfreien. Was ist ihre Meinung darüber?
Warum überrascht uns das? Das sind ja doch Kommunisten, nicht wahr? Das haben sie getan. Als sie in Ungarn an die Macht kamen, haben sie den Menschen das genommen, was diese besaßen. Sie haben doch die Kulakenlisten zusammengestellt, sie haben aus der Armee die Offiziere der Horthy-Zeit entfernt, sie waren es, die bei der Gründung der Polizei die im Übrigen kompetente und meiner Ansicht nach eine gute Qualität vertretende frühere Ordnungsmacht, die Gendarmerie, vollkommen liquidiert haben, sie waren es, die die Menschen des Geistes verkrüppelt haben, sie haben die Freiheit des Geistes weggenommen. Warum sollten wir also denken, dass sie sich geändert hätten? Es ist ein schöner christlicher Gedanke, und wir sollten ihn auch nicht aufgeben, dass sich jeder ändern kann, und natürlich sollten wir darauf hoffen, dass dies auch eintritt, aber ich erinnere mich an den beachtenswerten, provokativen, damals sich für viele verletzend anhörenden Satz meines ehemaligen Mitstreiters Gáspár Miklós Tamás irgendwann aus dem Jahr 1989, in dem er das alte ungarische Sprichwort „aus einem Hund wird keine Wurst“ variierend sagte: „Aus einem kommunistischen Hund wird keine demokratische Wurst.“ Das habe nicht ich gesagt, das hat nicht die nationale Seite gesagt, das hat die liberale Seite über die Kommunisten gesagt. Seitdem ist natürlich eine Zusammenarbeit zwischen den Liberalen und den Kommunisten entstanden, sodass heute die Jugendlichen zu sagen pflegen – und ich muss lachen, wenn ich sie das sagen höre –, dass ein Liberaler nichts anderes ist als ein Kommunist mit einem Diplom. So stehen wir also. Sie haben das gesagt, sie haben es gesagt, weil sie das dachten, und weil sie – wenn sie es könnten – dies auch tun würden. Die Frage ist, was wir sagen. Wir öffnen das Buch, in dem geschrieben steht: „Wer zum Schwert greift, soll durch das Schwert umkommen.“
Vielen Dank! Sie hörten Ministerpräsidenten Viktor Orbán.