Zsolt Törőcsik: Brüssel arbeitet mit Volldampf am neunten Sanktionspacket. Darüber sprach Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, auf ihrem Finnlandbesuch, während aus immer mehr europäischen Ländern auf Grund der GDP-Daten des dritten Quartals Nachrichten über die Verlangsamung der Wirtschaft kommen. Die Situation wird nach Meinung der Experten weiter dadurch erschwert, dass am 5. Dezember das Ölembargo der EU in Kraft tritt, d.h. ab Montag darf man kein Rohöl mehr aus Russland transportieren. Ministerpräsident Viktor Orbán ist zu Gast in unserem Studio. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen!
Guten Morgen!
Der 5. Dezember wird also ein wichtiger Termin sein, das Inkrafttreten der Ölsanktionen. Doch wie betrifft all das Ungarn?
Der Krieg dauert schon neun Monate. Die Vorstellung war, dass mit der Einführung der Sanktionen es gelingen würde, den Krieg abzuschließen, oder dass wir zumindest dem Ende des Krieges näherkämen. Der Zeitraum von neun Monaten zeigt deutlich, dass diese Erwartung nicht erfüllt worden ist, die Sanktionen haben uns keinen einzigen Millimeter dem Ende des Krieges nähergebracht, hingegen haben sie einen ganz schön großen Wirrwarr, ja schwerwiegende Probleme jenen bereitet, die die Sanktionen verhängt hatten, d.h. den Ländern der Europäischen Union. Wir stehen vor einem schweren Winter, die Ukraine ist in einer immer schwierigeren Lage, und die Russen erleiden offensichtlich wirtschaftliche Schwierigkeiten, doch liegen ihre Einnahmen wegen der hohen Energiepreise auch weiterhin in einer Extrahöhe, und sie können den Krieg fortsetzen. Aus diesem Bild können wir die Schlussfolgerung ziehen, dass die Politik der Sanktionen ihr Ziel nicht erreicht hat und verfehlt war. Jedoch sprechen wir bisher im Grunde nur über die Sanktionen bzw. man hat in Aussicht gestellt, dass die Sanktionen in Kraft treten werden. Es gibt natürlich einige, die bereits ihre Wirkung ausgeübt haben, doch der größte Teil der Sanktionen wird, so wie Sie das gesagt haben, am 5. Dezember in Kraft treten. Ich könnte auch sagen, jetzt entscheidet es sich. Das wird das Wirken der europäischen Wirtschaft erschweren. Ungarn gelang es ja zu erreichen, da das Sanktionsverbot für uns nicht gilt, deshalb darf Ungarn Öl aus Russland einführen zu dürfen. Wir müssen also nicht befürchten, dass es zu Versorgungsmängeln kommt. Wir haben also das Recht, an das zum Betreiben des Landes notwendige Öl zu gelangen. Das Problem ist der Preis, denn den preistreibenden Auswirkungen der Sanktionen kann sich auch Ungarn nicht entziehen, und deshalb warten wir es ab, welche Auswirkungen am 5. Dezember das Inkrafttreten der Sanktionen auf die Preise ausüben wird.
Der Preisdeckel steht auf der Tagesordnung, obwohl er noch nicht in Kraft getreten ist und es auch keinen Beschluss über ihn gibt, nicht nur im Zusammenhang mit dem Öl, sondern auch mit dem Gas. Und wie ich das einleitend bereits erwähnt hatte, von der Leyen wies darauf hin, dass sie auch trotz der erwähnten Auswirkungen mit Volldampf am neunten Paket arbeiten. Besitzt die ungarische Regierung irgendeine Information darüber, was dieses Paket enthalten mag, denn die Pressemeldungen besagen tatsächlich, dass der Preisdeckel eventuell auch hinsichtlich des Gases irgendeine Neuigkeit mit sich bringen könnte und vielleicht auch die Atomenergie hierin miteinbezogen wird…
Wir wissen, was sie wollen, was also die Brüsseler Bürokraten wollen. Sie möchten, dass die Sanktionen nach dem Öl auch auf die Atomenergie und das Gas erweitert werden würden. Dies hätte in Hinblick auf Ungarn tragische Auswirkungen, wir müssen dies also abwehren, wir müssen eine Befreiung erhalten. Dies ist bisher gelungen, dies steht nicht das erste Mal auf der Tagesordnung. Jetzt nennt man das das neunte Sanktionspaket, doch in Wirklichkeit ist um das vierte, fünfte bereits das Gas und auch die Nuklearenergie hervorgekommen, und Ungarn hat bisher immer seine nationalen Ziele erreicht, d.h. wir haben uns von der Tatsache des Embargos befreit. Wir können also auch aus Russland Materialien, Rohstoffe und Energie einführen, die die ungarische Wirtschaft benötigt. Deshalb nehmen wir hoffnungsvoll auch an der Diskussion über dieses neunte Paket teil, denn wenn wir bis jetzt haben durchhalten können, dann werden wir auch jetzt erreichen können, dass unsere Interessen gewahrt bleiben. Zugleich ist der Druck ein kontinuierlicher. Es wird also nach dem neunten Sanktionspaket auch ein zehntes und ein elftes geben. Wir müssen also ständig darum kämpfen, um unsere grundlegenden Interessen zu verteidigen. Auch deshalb haben wir die Menschen gebeten, durch die Nationale Konsultation die ungarische Regierung und den ungarischen Regierungsstandpunkt zu bestärken.
Wenn Sie schon die Nationale Konsultation zur Sprache gebracht haben, so ist es ja eine Nachricht von gestern, dass die Zahl der ausgefüllten Bogen die eine Million überschritten hat. Und dies zeigt auch, dass es doch eine Wirkung auf die Gesellschaft besitzt, was in Europa geschieht. Wie bewerten Sie diese Zahl?
Wir sprechen über eine einschneidende Frage, es gibt also heute kaum eine wichtigere Frage hinsichtlich des unmittelbaren Alltags als die, wie viel die Haushalte und die den Menschen eine Arbeit gebenden Unternehmen für die Energie werden zahlen müssen. Ich bin also davon nicht überrascht, dass an einer solchen Nationalen Konsultation bereits mehr als eine Million Menschen teilgenommen haben, und das sind im Allgemeinen ja auch mehr als eine Million, denn eine Million Fragebogen sind zurückgesandt worden, aber die Menschen füllen sie zum Glück nicht nur aus, sondern sie sprechen auch darüber, in einem Haushalt sind es sicherlich mehrere Menschen, ich habe also das Gefühl, das Land hat verstanden, dass das nächste Wirtschaftsjahr, der wirtschaftliche Erfolg des 2023-er Jahres, das Maß der wirtschaftlichen Schwierigkeiten von den Energiepreisen bzw. den Sanktionen abhängt.
Wir werden auch darüber dann ausführlicher sprechen, doch ist es interessant, dass wir am 2. Dezember noch immer über die Ausweitung der Sanktionen reden, denn in unserem Interview Ende Oktober hatten Sie gesagt, in Europa würde die auf der Seite des Friedens stehende Meinung stärker werden und es in dieser Zeit, im November-Dezember einen Zusammenstoß geben wird, wenn man dann auch über die Aufrechterhaltung der bereits vorhandenen Sanktionen wird sprechen müssen, denn diese sind jetzt ja im Großen und Ganzen bereits seit einem halben Jahr verhängt worden. Trotzdem wird jetzt ihre Ausweitung auf der Tagesordnung stehen?
Selbstverständlich stehen beide Fragen auf der Tagesordnung. Das eine Lager – jetzt scheint dies noch das Mehrheitslager zu sein, dieses nennen wir das den Krieg befürwortende Lager – möchte die Ausweitung der Sanktionen erreichen, denn sie wollen den Krieg fortsetzen und sie denken, über die Fortsetzung des Krieges kann man zum Frieden gelangen. Es gibt eine andere Denkweise, wir gehören zu dieser Schule, die sagt: „Sofortige Feuerpause und Beginn von Friedenverhandlungen!“ Unserer Ansicht nach führt also der Weg zum Frieden über die Feuerpause und Friedensverhandlungen. Jene, die den Krieg befürworten, fordern immer und immer wieder neue Sanktionen. In diese Grundsituation spielt jener Umstand hinein, den Sie hier jetzt erwähnen, d.h. dass man halbjährlich auch über die bereits verhängten Sanktionen entscheiden muss. Das ist bisher am meisten automatisch geschehen, doch jetzt wird die Lage eine solche sein, oder ist auch schon so in der Wirtschaft der Mehrheit der europäischen Länder, dass wir innehalten und Bilanz ziehen müssen hinsichtlich der Folgen der bisherigen Sanktionen, wir müssen also eine gründliche und tiefe Debatte führen, bevor wir über die Erneuerung der Sanktionen entscheiden würden. Dies weicht von der früheren Praxis ab, in der all das automatisch geschah.
Wenn wir über die Auswirkungen auf die Wirtschaft reden, ist das interessant, worüber der kroatische Präsident dieser Tage gesprochen hat, wonach Europa das Gas dreimal teurer von Amerika kauft als es dies früher besorgt hatte. Und da ergibt sich die Frage, auf wen kann Europa in dieser Situation selbst unter seinen eigenen Verbündeten rechnen?
Der kroatische Präsident irrt nicht, er hat also die Reihe auch nicht eröffnet, sondern vielleicht der französische Präsident, der sagte, es sei keine Freundschaft seitens der Amerikaner, wenn sie uns das Gas viermal teurer geben als wie sie es sich selbst zu Hause geben. Nun macht dies darauf aufmerksam, dass die Europäer sich vorerst verirrt haben, wir irren also vorerst im dunklen Wald herum. Ohne mich auf längere Erklärungen einzulassen, vereinfacht sah bisher die europäische Wirtschaftsstrategie so aus, dass man versuchen müsse, die in Russland befindlichen Rohstoffe und die Energie, die im Vergleich zu den anderen Teilen der Welt billigen Rohstoffe und die Energie nach Europa zu transportieren und im Gegenzug entwickelte europäische Technologie in Form von Investitionen nach Russland zu bringen. Jetzt war bereits seit mehreren Jahrzehnten dies die Achse der europäischen Wirtschaft. Dies haben die Führer der EU – von Lissabon bis Wladiwostok – mit der Losung „freier Markt“ beschrieben. Jetzt haben wir entschieden, dies zu beenden. Ungarn hat dies zwar nicht unterstützt, wir haben das nicht als eine gute Idee angesehen, doch die Mehrheit der Europäischen Union oder die überwiegende Mehrheit, besonders die großen Jungs, die am meisten betroffenen Deutschland und Frankreich haben durchgesetzt, dass wir diesem Wirtschaftsmodell ein Ende bereiten sollen. Europa hat sich also abgeschnitten oder schneidet sich dieser Tage kontinuierlich von der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den Russen ab. Das ist bis an diesen Punkt keine allzu komplizierte intellektuelle Aufgabe. Die Frage ist, dass wenn es das nicht gibt, was gibt es dann stattdessen? Was ist die neue europäische Wirtschaftsstrategie? Auf diese Frage gibt es keine Antwort, denn wenn auf diese Frage die Antwort ist, wir werden dann durch amerikanische Energiequellen ersetzen, was früher aus Russland kam, jetzt aber entfällt, dann müssen wir uns damit abfinden, dass dies teurer sein wird als der Preis der bisher aus Russland kommenden Energie. Wenn die Energie teurer ist, dann geht der Preis von allem hoch. Deshalb gibt es heute eine Sanktionsinflation in Europa. Wir bezahlen den Aufpreis der Sanktionen. Wenn wir nicht aus Russland Billiges holen können, dann muss es von anderswo geholt werden, und das ist teurer. Das treibt die Preise hoch, denn der Energiepreis, der hohe Energiepreis wirkt sich weiter aus und erscheint in allem, denn die Dinge müssen transportiert werden, sie müssen hergestellt werden, zur Herstellung jedweden Produktes ist Energie notwendig und das alles drückt die Preise hoch, selbst auch die Lebensmittelpreise, in erster Linie über den Preis des Kunstdüngers. Wir wissen also schon, wie das frühere Wirtschaftsmodell Europas aussah. Wir wissen auch, dass dieses gerade liquidiert wird. Doch was an seine Stelle kommt, diese Frage hat noch nie jemand beantwortet. Wir haben immer hierauf gedrängt, auch ich persönlich: „Meine lieben Freunde, die Ihr auf der Seite der Sanktionen steht, sagt uns doch, wodurch wird die europäische Wirtschaft in den kommenden Jahrzehnten wettbewerbsfähig sein, wenn wir nur teure Energie nutzen werden?“ Doch darauf gibt es keine Antwort und dies bedeutet für alle eine sehr schwerwiegende Herausforderung. Man muss sich an eine neue Situation anpassen, ohne dass eine gemeinsame europäische Wirtschaftsstrategie zur Verfügung stünde. Deshalb kann Ungarn nichts anderes tun, wir können nicht darauf warten, dass irgendjemand sich die Antwort auf die Frage ausdenkt, wie dann die zukünftige europäische Wirtschaft aussehen wird, wir müssen die zukünftige ungarische Wirtschaft aus eigenen Quellen, uns auf unseren eigenen Verstand verlassend, aus eigener Überlegung ausdenken und erschaffen. Daran arbeitet die Regierung. Das ist keine einfache Sache, denn hier muss man nicht eine vorübergehende, ein-zwei Jahre dauernde Krise managen, sondern man muss ein vollkommen neues Wirtschaftsmodell aufbauen.
Hierfür gibt es also noch keine Antwort aus Brüssel, worauf es sie aber gibt, das ist der ungarische Wiederherstellungsplan, den die Europäische Kommission am Mittwoch nach anderthalb Jahren gutgeheißen hat und den sie im Übrigen als einen der besten unter den 27 derartigen Dokumenten bewertete. Wenn dies tatsächlich so ist, warum musste man dann hierauf anderthalb Jahre warten?
Die Situation ist tatsächlich die, dass wir einen Schritt nach vorne getan haben, nun, wenn auch keinen riesigen, so haben wir doch einen bedeutenden Schritt getan, denn die Europäische Kommission hat nach einem Zaudern von anderthalb Jahren – so wie Sie das auch sagen – den ungarischen Wiederherstellungsplan zur Annahme vorgeschlagen und ihrerseits ihn auch angenommen. Hier sprechen wir jetzt über den Plan, der zum Ausgeben jenes Geldes notwendig ist, das wir mit Hilfe der gemeinsamen Schuldenaufnahme als Antwort auf die COVID-Krise hergestellt haben, damit die wegen COVID in eine schwierige Lage geratenen europäischen Länder an eine zusätzliche Quelle kommen, um ihre eigene Wirtschaft wiederherstellen zu können – deshalb nennt man es Wiederherstellungsfonds. Hier wäre die Geschwindigkeit am wichtigsten gewesen. Jetzt hätte man im Vergleich dazu die Quellen ja bereits im Sommer 2021 hergeben können. Warum haben sie das nicht getan? Warum waren sie uns gegenüber ungerecht? Warum haben sie die Zeit geschunden? Das besitzt offensichtliche politische Gründe. Es gibt ja zwischen der Europäischen Union und Ungarn in einigen wichtigen, nennen wir es so, in fundamentalen Fragen einen Meinungsunterschied, deshalb mögen sie die ungarische Regierung nicht, sie hätten sich bei den vorigen Wahlen eine linke Regierung gewünscht. Deshalb haben sie das Geld dem Land nicht gegeben, haben jedoch der Linken Dollars zugeschoben, damit sie die Wahlen gewinnen kann. So entstand die Affäre der „rollenden Dollars“. Das war der Plan. Doch die Wahlen hat die Rechte in Ungarn gewonnen, da konnte die Kommission nichts tun, sie musste substanzielle Verhandlungen führen. Sie haben alle möglichen Vorbedingungen hervorgeholt, wir haben einen Teil dieser als sinnvoll, einen anderen Teil als unsinnig angesehen, da wir aber ein Ergebnis erreichen wollten, konnten wir auch über die unserer Ansicht nach unnötigen Fragen oder Institutionen übereinkommen. Die Europäische Kommission hatte 17 Bitten, diese 17 Bitten haben wir erfüllt, und schließlich sind wir dort angelangt, dass die Kommission nicht nur sagte, dies sei in Ordnung, sondern dass der ungarische Plan zu den hervorragenden in Europa gehört. Ich muss ja sagen, sehr viele Menschen haben daran gearbeitet, ich möchte ihnen meinen Dank aussprechen. Von außen ist das nicht zu sehen, aber eine ganze Armee arbeitet während der Verhandlungen dafür, dass Ungarn gute Positionen erreichen kann. Und es hat sich als eine gute Entscheidung erwiesen, dass Tibor Navracsics in die Regierung zurückgekehrt ist und diese Verhandlungen geleitet hat, gut geleitet hat, wie dies auch das Ergebnis zeigt.
Als Sie über die Vorbedingungen sprachen, erwähnten sie siebzehn, doch seitdem gibt es auch schon eine achtzehnte. Was ist die Garantie dafür, dass es keine neunzehnte, zwanzigste, wer weiß wievielte geben wird?
Es gibt bereits eine neunzehnte und auch eine zwanzigste, doch wer die Europäische Union und die europäischen Institutionen kennt, der weiß genau, dass sie so sind. Sie werden also immer eine weitere Idee haben. Es gibt eine historische Tendenz, nach der die Brüsseler Bürokraten ihren Einfluss immer stärker auf die Mitgliedsstaaten ausweiten möchten, und wenn sie dazu eine Möglichkeit sehen, dann versuchen sie es auch. Hier ist Geduld nötig, denn obwohl sie Ungarn gegenüber ungerecht sind, obwohl sie immer neuere Bedingungen stellen, müssen wir schließlich doch nach einer Übereinkunft streben. Natürlich gibt es einige grundlegende Fragen, in denen wir unseren Standpunkt nicht ändern können, wir wollen das auch nicht, und in Wahrheit sind das die sich hinter den Debatten erstreckenden großen Fragen. Sie wollen, dass wir die Migranten hereinlassen sollen, wir tun das aber nicht, sie wollen, dass wir die sexuellen Propagandisten in die Schulen hereinlassen sollen, wir tun das nicht, und sie wollen, dass wir die Sanktionen ohne jeden weiteren Vorbehalt annehmen und den Krieg unterstützen sollen, aber wir werden auch dies nicht tun. Was aber darüber hinaus anliegt, über all das kann man verhandeln. Wir erleben jetzt die Tage dessen.
Es gibt noch zwei Dinge, in denen es doch einen Meinungsunterschied zwischen Brüssel und Budapest gibt. Die eine Sache ist die Frage der Finanzierung der Ukraine. Und in einem früheren unserer Gespräche sagten Sie, hierüber werde es noch ernsthafte Diskussionen geben. Wie stehen diese Diskussionen derzeit?
Die Sache beginnt jetzt ernst zu werden, denn es hat sich herausgestellt, dass der Krieg nicht nur Kosten hat, dass der Westen die ukrainische Armee finanziert: mit Waffen, Geld, Instrumenten; es gibt nicht nur die Kosten dessen, dass das, was jetzt zerstört wird, wieder aufgebaut werden muss, und außer den Westlern kann die Ukraine bei der Beschaffung der Wiederaufbaukosten kaum mit jemandem anderen rechnen, sondern es hat sich herausgestellt, dass es hier auch einen dritten Posten gibt: Und das ist die Frage der Finanzierung des Funktionierens des ukrainischen Staates. Die Ukraine ist also wegen des Krieges in die Situation geraten, dass sie sich selbst nicht aufrechterhalten kann, ich spreche jetzt also nicht über die Armee. Sie kann die Renten nicht auszahlen. Sie kann die Gehälter der staatlichen Angestellten nicht zahlen. Sie kann den Verkehr, ihre Infrastruktur nicht aufrechterhalten. Der ukrainische Staat kann ganz einfach ohne äußere Quellen nicht funktionieren. Deshalb hat sich die Ukraine an den Westen, innerhalb dessen auch an die Europäische Union gewandt, damit wir Geld geben. So einfach und primitiv: Wir sollen Geld geben. Dies bedeutet, dass wir, die Europäische Union nach Meinung der EU jährlich der Ukraine 18 Milliarden Euro geben müsste – nur damit der ukrainische Staat funktioniert und die ukrainischen Menschen das Geld erhalten, das zu ihrem Leben notwendig ist. Wir akzeptieren das. Wir sind nicht glücklich darüber, wenn es keinen Krieg, sondern Frieden gäbe, gäbe es diese Ausgaben auch nicht. Wenn also die EU die Linie verfolgt hätte, die Ungarn empfohlen hat, anstatt des Krieges lieber auf den Frieden zu drängen und ihn zu befördern, dann gäbe es diese Summe nicht oder sie wäre bedeutend geringer. Doch wenn wir schon an diesem Punkt angelangt sind, sieht Ungarn gewollt-ungewollt aber ein, wir sehen es trotz unserer eigenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten ein, dass man der Ukraine helfen muss. Und die Frage ist, wie wir der Ukraine helfen sollen. Es liegen zwei Vorschläge auf dem Tisch. Der eine Vorschlag sagt, wir sollten den Haushalt der EU-Mitgliedsstaaten benutzen, um gemeinsam weitere Kredite aufzunehmen, und aus dem gemeinsam aufgenommenen Kredit sollten wir der Ukraine Geld geben. Das unterstützen wir nicht, denn wir möchten nicht, dass die Europäische Union statt der Gemeinschaft der kooperierenden Mitgliedsstaaten sich zu einer Gemeinschaft oder einem Ensemble der gemeinsam verschuldeten Staaten wandeln würde. Deshalb unterstützen wir nicht nur im Zusammenhang mit der Ukraine, sondern auch im Allgemeinen solche Politiken nicht, der die Europäische Union auf die Weise finanziell eine Grundlage schaffen will, indem wir gemeinsam Kredite aufnehmen. Denn die EU wird sich von der Kooperation der Mitgliedsstaaten zu einer Schuldengemeinschaft wandeln, und unter deren Folgen werden nicht nur unsere Kinder, sondern auch unsere Enkel noch leiden, und wir werden die Kredite auch anstelle jener Länder zurückzahlen müssen, die in der Zwischenzeit dann zahlungsunfähig geworden sein werden. Nicht Ungarn pflegt in so eine Situation zu geraten, sondern andere, und ihre Zahl und die der Kandidaten dafür ist innerhalb der Europäischen Union nicht niedrig, wenn wir an die kommenden zwanzig Jahre denken, und betrachten, welches Land in welchem Maße bereits jetzt, ohne die Hilfeleistung für die Ukraine verschuldet ist. Wir unterstützen dies also nicht. Wir empfehlen, die Gelder des Haushaltes der Europäischen Union und die der Ukraine zu leistende Hilfestellung nicht miteinander zu vermischen. Wenn wir helfen wollen, dann sollten wir untereinander die zur Hilfeleistung notwendige Summe verteilen, jedes Land soll nach Gewichtung seinen eigenen Teil übernehmen und dies aus dem eigenen Haushalt auf Grundlage bilateraler Abkommen der Ukraine geben. Wir können nur dies unterstützen, die andere Variante akzeptieren wir nicht, wir stimmen ihr nicht zu, ohne uns wird sie auch nicht zustande kommen. Deshalb muss man zur direkten Unterstützung zurückkehren: zur Vereinbarung zwischen Haushalt und Haushalt, ungarischem Haushalt, zwischen den Haushalten der Mitgliedsstaaten und dem Haushalt der Ukraine. Das Geld muss man hierfür separat bereitstellen. Der ungarische Staat hat dies im Übrigen getan, wir haben das Geld beiseitegelegt, das wir im Jahr 2023 der Ukraine geben müssten und es auch auf Grundlage einer bilateralen Vereinbarung geben werden, doch werden wir keinerlei gemeinsamer Kreditaufnahme zustimmen.
Eine andere umstrittene Frage ist die globale Mindeststeuer. Hier versuchen doch Brüssel und Washington mit gemeinsamer Kraft Budapest zu überzeugen, sich in die Schlange einzureihen und sie zu akzeptieren. Können sie Erfolg haben? Kann sich der ungarische Standpunkt ändern?
Schauen Sie, die Mindeststeuer ist eine arbeitsplatztötende Steuererhöhung. Wenn sie also eingeführt werden würde und Ungarn dem zustimmte, würde das dorthin führen, dass zehntausende von Arbeitsplätzen in Ungarn zu existieren aufhören würden. Das können wir uns nicht erlauben. Meiner Ansicht nach ist die Steuerfrage im Übrigen auch keine globale Frage, die Steuerfrage gehört in die nationale Zuständigkeit, jedes Land muss selbst entscheiden, was für ein Steuersystem es anwendet. Die Wähler lieben die Demokratie gerade deshalb, weil sie bestimmen, welche Regierungen und was für eine Steuerpolitik versprechende Regierungen in jeweils einem Land an die Macht kommen können. Wenn wir hierauf verzichten würden, dann würden wir auch auf das Recht der ungarischen Menschen darauf verzichten, ein wesentliches Element der ungarischen Wirtschaftspolitik, die Steuerpolitik zu bestimmen. Deshalb halten wir die globale Mindeststeuer weder hinsichtlich der Arbeitsplätze noch der Demokratie für eine gute Idee, wir stimmen dem auch nicht zu, sie in Ungarn einzuführen.
Und der Schutz der Arbeitsplätze wird auch im kommenden Zeitraum eine Schlüsselfrage sein, denn die europäische Situation, über die wir zu Beginn sprachen, zeigt doch auch in Ungarn ihre Wirkung. Sie sagten diese Woche auf einer wirtschaftlichen Veranstaltung, es sei möglich, die Familien vor den gewaltigen Nebenkosten zu beschützen. Haben wir dafür ausreichenden budgetären Spielraum angesichts dessen, dass im Übrigen andere Ausgaben, z.B. auch die mit den Renten im Zusammenhang stehenden Ausgaben im nächsten Jahr steigen werden?
Jetzt haben wir nicht genügend Bewegungsraum, wir arbeiten jetzt daran, damit wir welchen haben, denn diesen wird es von allein nicht geben, man muss ihn schaffen. Die Situation ist also die, damit das auch die Zuhörer verstehen, dass der Preis der nach Ungarn kommenden Energie – denn Ungarn ist auf den Import von Energie angewiesen, wir können uns selbst nicht versorgen – im Jahr 2021 ein Saldo von 7 Milliarden aufwies. Soviel haben wir gezahlt, 7 Milliarden Euro haben wir für die Energie bezahlt, die Ungarn benötigte. Das ist 2022 auf 17 Milliarden gestiegen und 2023 kann das noch höher gehen, das wissen wir noch nicht genau, doch runtergehen wird es sicher nicht. Dies bedeutet, Ungarn verliert – dies nannte man in der alten Welt die „Verschlechterung der Austauschrelationen“ –, wir verlieren wegen der hohen Energiepreise jährlich mindestens zehn Milliarden Euro. Das sind viertausend Milliarden Forint! Wenn das nicht wäre, könnten wir diese Summe für Lohnerhöhungen, Renten, Entwicklungen, die Lehrergehaltserhöhung, Investitionen im Gesundheitsbereich aufwenden, also für Dinge, die Ungarn wirklich benötigt hätte. Doch das können wir nicht. Jetzt fliegt diese Summe aus dem Land und das muss erwirtschaftet werden. Also zehn Milliarden Euro, viertausend Milliarden Forint: Das muss das nächste Budget managen. Einen Großteil dessen, einen Teil, vielleicht die Hälfte, wird man dem Haushalt entnehmen müssen. Daran arbeiten wir jetzt mit Volldampf. Wir haben ein gültiges Haushaltsgesetz für 2023, das wir noch im Juli 2022 angenommen haben, doch seitdem hat sich die Welt auf den Kopf gestellt, deshalb ist die Neuplanung des 2023-er Haushaltes unvermeidlich geworden. Das läuft jetzt. Soweit wir sehen, können wir, wenn die Unternehmen ihre Aufgaben gut erledigen, auch die Arbeitnehmer gut arbeiten und auch die Regierung gut arbeitet, dann können wir es erreichen, dass die ungarische Wirtschaft nicht in die Rezession verfällt, nicht rückwärts zu schreiten beginnt, sondern es auch weiterhin ein Wirtschaftswachstum gibt. Wir rechnen mit einem Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent. Wenn das so ist, wenn wir dazu in der Lage sein werden, dann können wir den Schutz der Nebenkosten für die Familien verteidigen. Und das muss man sich so vorstellen, dass heute jede ungarische Familie eine Unterstützung von 181 tausend Forint monatlich über ihre Nebenkostenrechnung erhält. Wenn es die Politik der Senkung der Nebenkosten nicht gäbe, dann würde jede ungarische Familie monatlich im Durchschnitt um 181 tausend Forint mehr bezahlen. Jetzt stellen wir uns unsere eigene Familie vor und denken wir zu Ende, wie unsere Familien auf den Beinen bleiben könnten, wenn wir in jedem Monat wegen der Energie 181 tausend Forint mehr bezahlen müssten. Viele Millionen ungarische Familien würden in eine ausweglose Situation geraten. Sie müssten zuerst ihre Reserven aufbrauchen, danach könnten sie ihre Ausgaben nicht mehr zahlen, sie müssten Kredite aufnehmen und würden ganz einfach Bankrott gehen. Die Schlüsselfrage für Ungarn ist also, dass wir im kommenden Jahr jeden Forint, ja sogar jeden Fillér in den Fonds zum Schutz der Nebenkosten einzahlen müssen, damit wir die Familien vor den wegen der Sanktionen in den Himmel gestiegenen Energiepreise schützen können, damit das Land den Sanktionsaufpreis auf die Energie wird bezahlen können.
Es gibt noch etwas, das wieder eine Herausforderung darstellt, und das ist die Migration an der Südgrenze Ungarns. Die Zahl der illegalen Versuche, die Grenze zu übertreten, hat dieses Jahr bereits die 250 tausend überschritten. Und in den vergangenen Wochen haben wir ja eine Schießerei auf der Autobahn M5 zwischen den Migranten und den Polizisten gesehen bzw. in Horgos sind am helllichten Tag Banden von Migranten aufeinander losgegangen. Wie sehen Sie diese Situation bzw. an welchem Punkt steht der Prozess, den Sie mit dem serbischen Präsidenten und dem österreichischen Bundeskanzler initiiert haben, um den Schwerpunkt der Verteidigung möglichst weit in den Süden zu verlegen?
Die Situation wird immer extremer. Entlang unserer Südgrenze sind unselige Zustände im Entstehen begriffen. Darunter leiden die Ungarn. Man leidet auf der Seite der Grenze Richtung Ungarn und man leidet auch auf der Seite Serbiens an der Grenze, wo ebenfalls Ungarn in großer Zahl leben. Ihre Existenz wird langsam unerträglich. Also die Serben, die Österreicher und wir haben es, meiner Ansicht nach, richtig gesehen, dass wir dieses Grenzgebiet, diesen Zaunabschnitt nicht mehr besser schützen können. Es ist schon beinahe unmöglich, mit den Konflikten dort umzugehen, deshalb muss die Verteidigungslinie weiter in südliche Richtung verschoben werden, zu der Südgrenze Serbiens. Darüber sind wir übereingekommen, wir haben bereits zwei Verhandlungsrunden auf der Ebene der Ministerpräsidenten hinter uns, die dritte wird es bald in Österreich geben. Die Landkarte der Lösung, der Aktionsplan steht zur Verfügung. Jetzt geschieht das Sammeln des Geldes, der Instrumente und der Menschen, damit wir gemeinsam zu der Südgrenze Serbiens hinuntermarschieren können, und unter der Leitung der Serben, denn das ist ja ihr Land und ihre Grenze, um unter Leitung der Serben unsere Sicherheit einige hundert Kilometer weit südlicher verteidigen zu können als wo sich jetzt die serbisch-ungarische Grenze erstreckt. Eine gute Nachricht ist, dass es in Kassa ein Gipfeltreffen der V4 gab und da unter den hereinkommenden Migranten, denn trotz des Zaunes gibt es solche, nicht nur die Österreicher leiden, sondern auch die Slowaken, ja selbst die Tschechen verspüren die Auswirkungen davon, haben die anderen drei V4-Länder angeboten, bei der Durchführung des gemeinsamen österreichisch-serbisch-ungarischen Planes mitzuwirken. Sie sind bereit, Ausrüstung, Menschen und auch Geld uns zur Verfügung zu stellen, die Verhandlungen über die Einzelheiten dessen sind auch im Gang. Ich weiß, dass die Energie das größte Problem ist, ich weiß, dass die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Alltags für die Ungarn die größte Herausforderung darstellen, doch in der historischen Dimension ist die größte Herausforderung die Migration. Und wir müssen wissen, dass wir nicht nur die Schwierigkeiten des Grenzschutzes meistern müssen, sondern in Brüssel Strömungen, derartige politische Strömungen an der Macht sind, und sie unterstützen jene in Ungarn, die ihnen ähnlich sind, die die Migranten nach Europa hereinlassen wollen und sie nach Ungarn hereinlassen wollen. Ja, sie wollen uns sogar dazu verpflichten, diese hereinzulassen. Hierin stimmen die ungarische Dollarlinke und die Brüsseler Bürokraten überein. Also während wir unsere wirtschaftlichen Interessen verteidigen müssen, und man muss im Jahr 2023 leben, ja wir müssen uns möglichst entwickeln, gibt es zugleich eine andere, verstecktere, weniger offenliegende historische Herausforderung an Ungarn, und das ist die Verteidigung gegen die Migration. Und es mag sein, dass sich nur ein kleiner Teil des öffentlichen Denkens oder der öffentlichen Aufmerksamkeit auf die Frage der Migration richtet, aber wir, Entscheidungsträger, müssen uns dessen bewusst sein, dass dies die wichtigste historische Frage für Ungarn ist.
Über die Brüsseler Sanktionen, deren Auswirkungen, die Verhandlungen mit der EU und auch die Situation der Migration befragte ich in der vergangenen halben Stunde Ministerpräsident Viktor Orbán.