Herr Premierminister, Ungarn will ein EugH-Urteil zur Flüchtlingsverteilung nicht akzeptieren. Zerstören Sie so nicht Europas rechtsstaatliche Funktionsweise – und damit Europa selbst?
Orban: Sie irren. Wir nehmen das Urteil zur Kenntnis. Fest steht jedoch, dass die EU-Entscheidung über die Verteilung der Migranten bis auf eines von keinem Land umgesetzt wurde. Angesichts dieser Tatsache ist ein wenig unfair, ausgerechnet Ungarn zu kritisieren. Wenn eine Entscheidung mehrheitlich nicht umgesetzt wird, dann war vielleicht die Entscheidung falsch.
Was ist an dem Urteil so verkehrt?
Dieses Urteil sagt nichts darüber, ob die Europäische Kommission überhaupt das Recht hat, entgegen dem Willen der ungarischen Regierung irgendjemand nach Ungarn zu verlegen. Das ist aber die entscheidende Frage. Unsere Meinung ist, dass Gebiet und Bevölkerung eines Landes Teil seiner verfassungsmäßigen Identität sind. Und diesbezüglich kann kein europäisches Organ irgendeine Verpflichtung feststellen.
Sie würden also nichts tun, um die europäische Verfasstheit zu gefährden?
Nein, wir sind Mitglied der Europäischen Union. Und die EU beruht auf einem Grundsatzvertrag und deshalb müssen auch wir auf dieser Grundlage stehen – und das tun wir auch.
Sehen Sie Österreich und Tschechien nach den dortigen Wahlen als neue enge Verbündete für ihren Kurs?
Mit Österreich haben wir ja schon immer ein enges, quasi verwandtschaftliche Verhältnisse gepflegt. Mit Tschechien ist das anders. Tschechien hat keine Grenze zu Ungarn. Tschechien ist aber Teil des Bündnisses, das wir Visegrad-Staaten nennen und das – wie ich mit gebührender Bescheidenheit erwähnen muss – das erfolgreichste Bündnis und die erfolgreichste Region in Europa ist. Deshalb wollen wir auch künftig ein strategisches Verhältnis zu den Tschechen. Ich kenne den dortigen Wahlsieger. Man kann mit ihm gut zusammenarbeiten. Uns Ungarn liegen solche Spitzenpolitiker. Er ist ein Geschäftsmann, spricht Klartext, will keine Zeit verlieren – und wenn du dich mit ihm geeinigt hast, hält er sich dran. Sein Sieg freut uns also.
Ungarn geht es wirtschaftlich mittlerweile sehr gut. Was ist das Geheimnis dieses ökonomischen Erfolgs?
Wir haben auf eine Arbeit basierende Gesellschaft aufgebaut. Ungarn verfügt wegen seiner kommunistischen Vergangenheit nicht über genügend Kapital. Deshalb mussten wir die Marktwirtschaft so aufbauen, dass wir den Schwerpunkt nicht auf Kapital sondern auf Arbeitskraft gelegt haben. Und nach 2010 haben wir ein auf Vollbeschäftigung ausgerichtetes System geschaffen – dieses Ziel ist schon in greifbarer Nähe. Das ist das erste Geheimnis des Erfolges. Das zweite: Wir wollen auf eigenen Beinen stehen. Wir wollen die ungarische Wirtschaft nicht mit deutschem Geld in Ordnung bringen. Deshalb haben wir auch sämtliche Schulden, die wir während des Krisenmanagements machen mussten, zurückgezahlt. Sowohl an die IWF als auch an die EU. Wir wollen nur Handel treiben, wir wollen unternehmerisch tätig sein und wir wollen das man unsere Bürger arbeiten lässt. Wer vom Geld anderer lebt, ist letztlich ein Diener. Das passt nicht zum ungarischen Charakter.
Heißt das auch, es passt nicht zum ungarischen Charakter, sich als Befehlsempfänger Deutschlands zu fühlen? Behagt den Ungarn die deutsche Dominanz nicht?
Deutschland ist größer, reicher und stärker als Ungarn. Aber auch wenn wir kleiner sind, Deutschland muss Ungarn Achtung entgegenbringen. Das klappt nicht immer – aber immerhin meistens. Wir haben also keinen Grund uns zu beklagen.
Täuscht der Eindruck, oder ist das Verhältnis beider Staaten trotzdem abgekühlt?
Das deutsch-ungarische Verhältnis ist sicher ein besonderes Verhältnis – und auch ein mysteriöses. Ein bisschen jenseits des Rationalen. Da gibt es eine seelische Qualität. Wir haben seit Jahrhunderten keinen Krieg gegeneinander geführt. Wir haben uns gegenseitig unterstützt, wenn es nötig und möglich war. Wir haben uns häufig verbündet, manchmal für schlechte Dinge, manchmal für gute Dinge. Jetzt haben wir uns gerade für etwas Gutes zusammengetan: Wir wollen gemeinsam ein Europa aufbauen. Es gibt Meinungsverschiedungsheiten das ändert aber nichts daran, dass wir Verbündete sind.
Welche Rolle in Europa sollte Deutschland Ihrer Meinung nach spielen?
Deutschland hat es nicht leicht. Es ist nämlich auch nicht immer leicht, groß, stark und reich zu sein – selbst wenn man in so einem Fall eher beneidet wird. Viele wollen auf dem Rücken von Deutschland emporkommen, wollen die eigenen Probleme mit deutschem Geld bewältigen. Das können die Deutschen aber nicht alles schultern. Die Arbeit der Bundeskanzlerin, eine Rolle zu finden, ist also viel schwieriger als meine….
…und jetzt wird ihre Arbeit noch viel schwieriger, weil sie ein kompliziertes Bündnis schmieden muss – und weil wir als drittgrößte Partei im Bundestag die AfD haben. Sehen Sie eigentlich in der AfD eine Partei, die Ihre Politik eher unterstützt?
Wir pflegen ein Schwesterparteien-Verhältnis mit CDU und CSU. Wir sind von Natur aus treu – und das bleiben wir auch. Wir suchen keine neuen Verbündeten.
Sie betonen die Treue zur CSU. Auch Horst Seehofer war immer ihr Fürsprecher in Bayern und in Deutschland. Müssen Sie jetzt Fürsprecher für Horst Seehofer werden?
Horst Seehofer ist nicht der Mensch, der Hilfe benötigt. Als ich ihn nach der Wahl zuletzt gesprochen habe, hat er gesagt: Ich stehe und kämpfe. Die CSU liegt uns sehr am Herzen, zu ihr gehörten die entschiedensten Antikommunisten. Und innerhalb der Europäischen Volkspartei haben sie den stärksten christlichen Zug. Die CSU bewahrt Werte, die Europa und auch Ungarn nötig haben. Ich kann der Partei also nur das Beste wünschen. Aber ihre inneren Angelegenheiten muss sie selbst regeln.
Bayern und Ungarn haben auch gemeinsam, dass im kommenden Jahr Wahlen anstehen. Mit welchen Zielen für Europa treten sie selbst für eine mögliche nächste Legislaturperiode an?
Europa steht vor einem neuen und großen Dilemma. Die alten Unterschiede in der EU haben ihre Bedeutung verloren. Die entscheidende Unterschied ist nicht mehr, ob man ein altes oder ein neues Mitglied ist – auch nicht, ob man aus dem Süden oder Norden, Westen oder Osten kommt. Stattdessen gibt es eine neue Trennungslinie. Sie verläuft zwischen den Einwanderungsstaaten und den Nicht-Einwanderungsstaaten. Manche Länder haben die Entscheidung getroffen, eine gemischte Bevölkerung haben zu wollen. Und andere Länder wollen sich so erhalten, wie sie jetzt sind. Das ist für uns auch eine Frage der inneren Sichereit. Und keiner kann dem anderen den Willen aufzwingen. Die große europäische Frage lautet, wie wir künftig zusammenleben werden. In dieser Frage gibt es im Moment noch mehr Emotionen als Nüchternheit. Es wird mehr über den Unterschied gesprochen, als über die Frage, wie man diese Situation löst. Und das, obwohl die Zukunft von Europa von der Beantwortung dieser Frage abhängt. Ich selbst möchte im politischen Ring bleiben, ich möchte das meine Partei eine bestimmende Kraft bleibt und fester Pfeiler ist bei der Gruppe des Bündnisses der Nicht-Einwanderungsstaaten.
Sie haben von Emotionen gesprochen: Sie waren im Rahmen ihres Passau-Besuchs auch am Grab der seeligen Gisela. Welche Gedanken sind Ihnen dabei durch den Kopf gegangen?
Das nichts überflüssig – und nichts ohne Folgen vergeht. Da kam eine bayerische Frau mit großem Gefolge zu einem ungarischen Mann, und wurde seine frau. Daraus entstand das Christentum in Ungarn. All’ das beschützen wir jetzt.