Guten Tag! Ich begrüße den Präsidenten des Ungarischen Parlaments und Frau Vorsitzende Mária Schmidt. Ich begrüße die anwesenden Vertreter des in unserem Land akkreditierten Botschaftercorps, die Mitglieder der Regierung, meine alten Freunde, überhaupt all jene, die gekommen sind.
Ich möchte an dem Punkt fortsetzen, an dem die Frau Ministerin aufgehört hat, denn dies ist der Tag, an dem Ungarn sich das erste Mal in der im Mai initiierten Debatte über die Zukunft der Europäischen Union äußert. Gerade an diesem Tag.
Der genaue Sinn der Worte ist am wichtigsten. Wenn es keine Ordnung in unseren Worten gibt, dann gibt es auch keine Ordnung in unseren Gedanken.
In der Debatte, die im Mai in der Europäischen Union begonnen hat, geht es um die Zukunft der Europäischen Union, und so wird es auch in meinem Vortrag nicht um die Zukunft Europas, sondern die der Europäischen Union gehen. Teil Europas sind Norwegen, die Schweiz, das Vereinigte Königreich, der ganze Balkan, die Ukraine und Weißrussland mit Sicherheit, und auch Russland, bis zum Ural mit Sicherheit, und auch die türkische Welt erstreckt sich in den geographischen Raum hinein, den wir Europa nennen. Europa ist ein kulturelles Konstrukt, das fantastisch, überwältigend, atemberaubend und unnachahmlich ist. Es ist die aus den unnachahmlichen, miteinander zusammengewachsenen Weinreben der drei Erhebungen, der Akropolis, des Kapitols und von Golgatha entsprießende Weinranke. Wein wird an vielen Orten in der Welt produziert, man versucht auch die europäische Kultur an zahlreichen Orten heimisch zu machen, aber man wird nie an den Geschmack und die Schönheit des Originals herankommen, so oft man sich auch betrinken mag. Im Leben Europas wechselten sich bessere und schlechtere Zeitalter ab, doch ist Europa ewig, und das ist es auch heute, auch wenn die Kleidung anderer heller glitzern mag. Doch sind wir heute nicht auf der Sitzung der Kunstakademie, auf der wir miteinander wetteifernd die Größe unseres Kontinents loben, sondern auf einer politischen Veranstaltung, und wir müssen nicht über Europa nachdenken, sondern über die Zukunft der Europäischen Union.
Die Europäische Union ist ein politisches, von Menschen geschaffenes politisches Konstrukt, das ins Leben gerufen wurde, um die wirtschaftlichen und militärischen Interessen der Länder der Schöpfer zu schützen. Man hat sie geschaffen, um auf die politische Tatsache zu antworten, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die eine Hälfte Europas die Amerikaner und die andere die Sowjets besetzt hatten. Man schuf die Europäische Union, damit die Hoffnung nicht verlorengehen sollte, dass eines Tages über das Schicksal Europas erneut die Europäer werden entscheiden können.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Auf Grund einer Umfrage schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung, im Juni 2021 hätten nur 45 Prozent der Deutschen gesagt, man könne frei die eigene Meinung äußern, und 44 Prozent vertraten den entgegengesetzten Standpunkt. Laut den Antwortenden könne man sich leicht Ärger einhandeln, wenn man über den Islam, den Patriotismus oder die Heimatliebe das sagt, was man denkt. Václav Klaus, der heute am weitesten leuchtende Geist der ehemaligen führenden Politiker in Europa, sagt, der Mensch, die Familie und die Nation stünden zugleich unter einem Angriff, was die Zukunft Europas gefährde. Frau Barley, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments sagt, man müsse Ungarn und Polen aushungern. Einer der Vizepräsidenten der Kommission sagt über einen Mitgliedsstaat der EU, gerade über uns, wir seien eine kranke Demokratie. Was ist mit unserer Europäischen Union geschehen?
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die EU hat 2008 insgesamt 25 Prozent des GDP der Welt, also des Gesamtproduktes erwirtschaftet, 2019 waren es nur 18 Prozent. Die EU hat 2008 insgesamt 22 Prozent des gesamten industriellen Mehrwertes gegeben, und 2019 waren es 15 Prozent. Unter den 50 größten Firmen der Welt gab es 2001 insgesamt 14 europäische, heute sind es nur 7. Unter den 10 größten Finanzzentren der Welt findet sich kein einziger in der Europäischen Union. Die Europäische Union hat vor dreißig Jahren noch siebenmal so viele Patente angemeldet wie China, heute meldet China vierzehnmal so viele an wie die Europäische Union. In der Welt entstanden in den vergangenen 25 Jahren 20 Firmen, deren Wert heute über 100 Milliarden Dollar liegt: 9 amerikanische, 8 chinesische, eine europäische befindet sich nicht unter ihnen. Was ist mit unserer EU geschehen? In den vergangenen dreißig Jahren haben die Vereinigten Staaten ihre Militärausgaben um mehr als 30 Prozent erhöht, China um das Neunfache, also um 900 Prozent. Die EU steht dort, wo sie seit dreißig Jahren steht. Unter den zehn Ländern, die über den höchsten Rüstungsetat verfügen, finden wir nur zwei Länder der Europäischen Union. Was ist mit unserer Europäischen Union geschehen?
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Nur ein Viertel der Bürger der Europäischen Union glaubt, dass die nächste Generation besser leben wird als wir heute. 57 Prozent der Franzosen, 53 Prozent der Belgier, 44 Prozent der Deutschen glauben, dass die nächsten französischen, belgischen und deutschen Generationen schlechter leben werden als die heutige Generation. Wohin ist der europäische Traum verschwunden? Was ist mit unserer Europäischen Union geschehen? Laut der Studie der Bertelsmanns Stiftung aus dem Jahr 2016 hat der einheitliche Binnenmarkt ein Zusatzeinkommen für die Mitgliedsstaaten zum Ergebnis. Wenn auch nicht im gleichen Maß. Pro Kopf berechnet ergibt das für die Deutschen ein Plus von 1.046 Euro, für die Franzosen 1.074 Euro, für die Ungarn 408 Euro und für die Polen 382 Euro, das heißt wir sehen statt Konvergenz vielmehr Divergenz. Laut der Analyse des ebenfalls deutschen CEP aus dem Jahr 2017 gewannen und gewinnen nur Deutschland und die Niederlande mit dem Euro, alle anderen Staaten der Eurozone erleiden schwerwiegende Verluste. Was ist mit unserer Europäischen Union geschehen?
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Heute ist der Tag der ungarischen Freiheit. Dreißig Jahre in Freiheit. Es ist dreißig Jahre her, dass wir den Kalten Krieg gewonnen haben. Herr Präsident Reagan hatte die weichen umgestellt und er hatte das entscheidende Gefecht des Kalten Krieges gestartet. Die polnische Solidarność hat mit dem vom Papst erhaltenen Mut bewiesen, dass die Sowjets nicht mehr die Kraft hatten, das einzige Mittel, das das sozialistische Lager zusammenhielt, das Militär und die Gewalt, einzusetzen. 1956 gehörte der Vergangenheit an. Und nach sieben Jahren haben wir, mitteleuropäische Völker, uns mit dem von den Polen erhaltenen Mut an die Seite Polens gestellt, und haben die letzte, die 1989-90-er Schlacht des Kalten Krieges gewonnen. Wir waren dort. Wir wissen, dass die Freiheit nicht von alleine gekommen war, sondern wir sie erkämpft haben. Der Kommunismus ist nicht in sich zusammengestürzt, sondern wir haben ihn umgestoßen. Die Berliner Mauer ist nicht gefallen, sondern wir haben sie umgestürzt. Die Sowjets sind nicht hinausmarschiert, sondern wir haben sie hinausgedrängt. Geschickt, ohne Blutverlust haben wir sie gestürzt, umgestürzt, hinausgedrängt und erkämpft. Auch heute sind wir jene, die wir waren: Die letzten bis auf den heutigen Tag lebenden Freiheitskämpfer Europas. Europas Geschichte hat sich nicht verändert, sondern wir haben sie geändert. Wir wissen, dass jetzt, wo die Europäische Union in Schwierigkeiten steckt, sie sich nicht von alleine bessern, verändern und auf den richtigen Weg zurückkehren wird. Wir müssen sie bessern, verändern und auf den richtigen, einst auch erfolgreichen Pfad zurückführen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die Europäische Union braucht heute erneut gerade solche Freiheitskämpfer, wie wir es sind.
Sehr geehrte Konferenz!
Heute formulieren wir Thesen. Jene Thesen, mit denen die ungarische Regierung zu der gesamteuropäischen Debatte über die Zukunft der Europäischen Union beiträgt und der – so unsere Hoffnung – dann eine ähnliche Stellungnahme des ungarischen Parlaments folgen wird.
Unsere erste These lautet: Wir rasen auf eine Europäische Union mit imperialem Charakter zu. Statt des Europas der Nationen wird in Brüssel an einem europäischen Superstaat gebaut, für den niemand eine Ermächtigung gegeben hat, es gibt keinen europäischen Demos, es gibt nur Nationen. Und ohne den Demos kann man keine Demokratie errichten, deshalb führt der Bau des Brüsseler Imperiums notwendigerweise zum Fehlen der Demokratie. Was wir möchten, ist etwas ganz anderes. Wir möchten die Demokratie der Demokratien, deren Grundlage die europäischen Nationen bilden. Wir sollten keine Angst haben, es auszusprechen: Wir, auf nationaler Grundlage stehenden Demokraten stehen denen gegenüber, die das Reich errichten und in Wahrheit auch die Gegner der Demokratie sind.
Unsere zweite These lautet: Brüssel wird heute von denen gelenkt, die die Integration nicht als ein Mittel, sondern als Ziel, als Selbstzweck betrachten. Deshalb wollen sie alle nationalen Interessen und traditionellen Werte überschreiben. Das Rechtssystem und die Institutionen der EU behindern diese Bestrebung nicht, sondern befördern sie. Deshalb sind unsere politischen Gegner bestrebt, die die Grundlage der europäischen Kultur bildenden natürlichen Gemeinschaften zu schwächen. Im Fadenkreuz befinden sich die Nation, die Regionen, die christlichen und jüdischen Kirchen, die Familien. Deshalb müsse man, sagt die ungarische Regierung, aus dem Grundlagenvertrag der EU den Ausdruck der „ever closer union” bei der ersten sich bietenden Gelegenheit streichen.
Unsere dritte These ist, dass Brüssel einen ansehnlichen Teil seiner Macht den von außerhalb Europas organisierten und geleiteten Netzwerken übergeben und zugespielt hat, in erster Linie den Sorosschen Netzwerken und den dahinterstehenden amerikanischen demokratischen Interessen. Und das geschieht auf die folgende Weise. Als erster Schritt hat man die Kommission aus der Position der politisch unparteiischen Hüterin der Verträge wegbewegt und zu einer politischen Körperschaft umgeformt. Dies begann nicht im geheimen, sondern mit der öffentlichen Ankündigung von Herrn Präsidenten Juncker. Klammer auf: Deshalb hatten die Briten und die Ungarn auch nicht die Wahl von Herrn Juncker zum Präsidenten unterstützt, und dies hat letztendlich auch zum Brexit geführt. Klammer zu. Der zweite Schritt ist, dass die zur politischen Körperschaft umgebildete Kommission beschließt, Rechtsstaatlichkeitsberichte über die Mitgliedsstaaten der EU anzufertigen. Diese Landesberichte werden aber nicht auf der Grundlage der Meinungen, Dokumente oder Tatsachenmitteilungen der Mitgliedsstaaten zusammengestellt. Diese Arbeit wird zu den in den Mitgliedsstaaten tätigen NROs, an pseudozivile Organisationen ausgelagert, die in Wirklichkeit politische Organisationen sind, die typischerweise, beinahe ausnahmslos auf dem ganzen Kontinent zu dem Netzwerk von George Soros gehören, was sie selbst im Übrigen auch gar nicht leugnen. Dritter Schritt: Auf Grund der von ihnen gelieferten Daten und ihrer Meinung werden die demokratisch gewählten Regierungen der Mitgliedsstaaten bewertet, und sie wollen jene auch bestrafen, die ihnen nicht gefallen. Das ist ein Missbrauch der Macht, jener Macht, die die Mitgliedsstaaten der Kommission übergeben haben.
Unsere vierte These lautet: Ohne gemeinsamen wirtschaftlichen Erfolg wird die Europäische Union auseinanderfallen. Der Gedanke der EU baut auf die einfache Annahme auf, dass die Mitgliedsstaaten gemeinsam einen größeren wirtschaftlichen Erfolg erreichen können, als jeweils allein für sich. Wenn es sich herausstellt, dass wir allein für uns wirtschaftlich erfolgreicher sind oder sein können, dann ist es mit der Europäischen Union vorbei. Deshalb dürfen wir, die wir Anhänger der Europäischen Union sind, nur eine Politik unterstützen, die sich ausschließlich auf den gemeinsamen wirtschaftlichen Erfolg konzentriert. Demgegenüber kämpft Brüssel heute gegen sich selbst, gegen seine eigenen Mitgliedsstaaten: Es belehrt, droht, zwingt und straft, mit anderen Worten es missbraucht seine Macht und dadurch zerschlägt es sich selbst.
Unsere fünfte These lautet, dass das kommende Jahrzehnt das Zeitalter gefährlicher Herausforderungen sein wird: Völkerwanderungen, Migration, Seuchen und Pandemien. In diesem gefährlichen Zeitalter muss man Sicherheit schaffen und in der Weltwirtschaft erfolgreich sein. Die Voraussetzung für den Erfolg ist die Wiederherstellung der europäischen Demokratie. Im Interesse des Schutzes der nationalen und konstitutionellen Identität der Mitgliedsstaaten muss man deshalb eine neue Institution unter der Einbeziehung der Verfassungsgerichte der Mitgliedsstaaten schaffen.
Unsere sechste These lautet: Das Europäische Parlament hat sich hinsichtlich der europäischen Demokratie als Sackgasse erwiesen. Es vertritt nur seine eigenen Partei-, ideologischen und institutionellen Interessen. Es trägt mit nichts zur Kraft der Europäischen Union bei, sondern nimmt von ihr nur weg. Deshalb muss man die Rolle der nationalen Parlamente bedeutend vergrößern. In das Europäische Parlament müssten die nationalen Legislativen Vertreter entsenden – nach dem Vorbild der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Den nationalen Parlamenten muss man darüber hinaus das Recht geben, den Gesetzgebungsprozess der EU aufzuhalten, wenn sie sehen, dass dieser nationale Zuständigkeiten verletzt, d.h. man muss das Verfahren der „roten Karte“ einführen.
Unsere siebente These ist: Ceterum censeo, Serbien muss aufgenommen werden. An die Mitgliedschaft Serbiens knüpft sich seitens der EU ein größeres Interesse als seitens der Serben. Diese Tatsache muss zur Kenntnis genommen werden, und man muss sie aufnehmen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die Geschichte bietet jetzt auf dem Tablett die Möglichkeit. Die Debatte hat begonnen, wir können endlich offen über die Probleme sprechen, über all das, was verletzend ist und die Bürger der Mitgliedsstaaten kränkt. Auch das Podest hat man für uns gezimmert – ich hoffe, ich sehe es als das, was es ist –, es ist nur der notwendige intellektuelle Mut notwendig, und wir können es für unsere Zwecke nutzen. Wir haben eine Möglichkeit erhalten, die Sowjetisierung der Europäischen Union und die Moskauisierung Brüssels aufzuhalten. Wir wissen, was für eine Gefahr droht, denn wir leben erst seit dreißig Jahren in Freiheit. Wir waren schon immer die Freiheitskämpfer Europas. Wir haben die Freiheit erkämpft, und unsere westlichen Freunde haben sie geerbt. Was für ein Unterschied! Wir sollten genügend geistigen und politischen Mut haben, und einsehen, dass die Zeiten sich geändert haben. Vor dreißig Jahren hatten wir geglaubt, Europa sei unsere Zukunft, heute sehen wir schon, dass wir die Zukunft Europas sind. Wagen wir es, auch in Brüssel Demokraten und Freiheitskämpfer zu sein, denn nur daraus kann die neue europäische Renaissance geboren werden.
Der liebe Gott über uns allen, Ungarn vor allen Dingen! Vorwärts Ungarn!