Ich begrüße hochachtungsvoll die führenden Persönlichkeiten der Kirchen und des ungarischen Staates, die Mitglieder der Familie Tisza.
Sehr geehrte Gedenkende! Meine Damen und Herren!
„Mutig, wie ich gelebt habe, will ich sterben” – sagte István Tisza unmittelbar vor dem gegen ihn gerichteten Attentat. Heute sind es hundert Jahre, dass der legendäre Politiker des Dualismus den Märtyrertod starb. Seine Ermordung stellt ein dunkles und bis auf den heutigen Tag ungeklärtes Kapitel der ungarischen Geschichte dar. Was man mit Sicherheit wissen kann: Die sein Leben auslöschenden Schüsse verletzten die ganze Nation. Sein Tod erschütterte Ungarn so wie jener von Miklós Zrínyi oder István Széchenyi. Und so hat er sich auch in die Erinnerung des ungarischen Volkes eingebrannt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
István Tisza war kein Mensch, der vor den auf ihn gerichteten Pistolenläufen erschrocken wäre. Er hatte dem Tod bei zahlreichen Gelegenheiten ins Auge geblickt. Er wusste, dass der Tod dem Menschen sein Leben nehmen kann, aber nicht seine Ehre. Ich glaube, er wusste auch, und war stolz darauf, dass er in die Reihe jener Ungarn gehören würde, die ihr Leben für Ungarn geopfert haben. Er verstand die Wendung: Noblesse oblige, Adel verpflichtet. Er wusste, diese Verpflichtung wird sogleich in dem Moment geboren, in dem man seine Sendung erkennt, das durch die Fürsorge vorgezeichnete Schicksal. Man erkennt die Aufgabe, die man als Spross einer durch und durch ungarischen Familie erfüllen muss. Tisza erkannte dies früh, bereits als junger Mann bereitete er sich auf diese Aufgabe vor. Und später betrat er den Teppich der Politik mit dem Entschluss in seinem Herzen, wenigstens mit einem Baustein zur Grundierung der Zukunft der ungarischen Nation beitragen zu können. Er trat mit dem Ziel in die Schranken, dass „Ungarn jenen Raum einnehmen soll, zu dem es berufen ist, und sich Anerkennung erringe, den Respekt innen und außen, und den Aufstieg für die ganze Nation sichere”. Nach dem Zusammenbruch am Ende des Krieges, nach den Verwüstungen der roten Terroristen und des Verlustes von zwei Dritteln des Landesgebietes bedeuteten diese Bausteine jenes Fundament, auf das die großen ungarischen Staatsmänner der Epoche zwischen den beiden Kriegen, Bethlen oder Klebelsberg, aufbauen konnten. Und noch immer befindet sich manch ein Baustein, den er niedergelegt hat, auch nach einem Jahrhundert hier in jenem Fundament, auf das wir die ungarische Nation errichten.
Sehr geehrte Gedenkende!
Als das Ende gekommen war, nahm István Tisza sein Schicksal an. Der Mensch der heutigen Zeit versteht dies kaum noch. So schrieb es ihm die Ehre seiner Familie vor. Diesen Weg hatten ihm seine Erziehung, sein Glaube und jene reformierte Tradition des öffentlichen Lebens vorgezeichnet, die mit Gábor Bethlen, dem Fürsten Siebenbürgens begonnen hatte. Er versteckte sich nicht hinter anderen. Er floh nicht ins Ausland. Er ließ niemanden im Stich und verriet niemanden. Er tat, was er in der gegebenen Situation tun musste. Kraft entströmte ihm, ja ein eiserner Wille, der Vertrauen ausstrahlte, wo immer er auch war. Ein Handschlag mit ihm bedeutete einen Vertrag. Er war bis zuletzt ein Anhänger des geradlinigen Kampfes mit offenem Visier. Heute sehen wir, dass er genauer, schärfer und umfassender die Situation von Ungarn, der Monarchie und Europas verstand, als alle seine ungarischen Zeitgenossen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die durch den Asternputsch an die Macht gekommenen Gegner von István Tisza konnten nicht einmal etwas mit seinem Tod anfangen. Er wuchs selbst noch aus dem Jenseits über sie hinaus. Der Führer der sozialistischen Operettenrepublik und seine Handlanger besaßen zu ihm ein Verhältnis wie zu dem alten, historischen Ungarn: Sie hassten ihn, weil er stolz war und stark. Und weil er von dem Selbstbewusstsein jenes Volkes durchdrungen war, das bereits seit tausend Jahren im Herzen Europas lebt und überlebt. Hier, inmitten von Auseinandersetzungen, im doppelten Stahlring, zwischen germanischen und slawischen Völkern. Weder Tisza noch Ungarn wollte so werden, wie das der Rote Graf und seine Kumpane gern gesehen hätten. Károlyi und Konsorten wollten die Macht, doch konnten sie sich nicht zum ungarischen Volk erheben, weshalb sie nur auf unsere Feinde und die Anarchie hoffen konnten. Und nachdem die Pester Straße und auch ihre vermeintlichen westlichen Verbündeten sie im Stich gelassen hatten, führte für sie der gerade Weg bis zur Zelle von Béla Kun. Die Salonhusaren und törichten Träumer konnten oder wollten nicht einsehen, dass sie vergebens vor den Führern der Entente katzbuckeln, die Flut würde schließlich bis Budapest, auch bis zu ihrer Schwelle gelangen. Sie verstanden nicht, dass wenn niemand auf dem Damm bleibt, ja wenn wir selbst auf schwachsinnige Weise den Damm freiwillig abbauen, dann die Flut alles hinwegschwemmen würde. Tisza kannte aber sehr genau die Höhe des Einsatzes, deshalb wollte er den Krieg nicht, doch wusste er auch, dass wir den entgegen des Willens der Ungarn ausgebrochenen Krieg nicht verlieren dürfen. Er hatte Recht. Die Flut, die schließlich das alte Europa unter sich begrub, drängte Ungarn an den Rand des Untergangs, und entriss uns viele Millionen unserer ungarischen Schwestern und Brüder.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
István Tisza war durch und durch ein nationaler Politiker. Er hielt sich nicht die Interessen von Klassen, nicht jene von herrschaftlichen Cliquen, nicht die der Ideologien, nicht jene von Finanzgruppen vor Augen, sondern das der gesamten ungarischen Nation bis hin zu den am entferntesten liegenden ungarischen Dörfern und den verstecktesten Arbeiterbezirken.
Sehr geehrte Gedenkende!
Auch heute ist es schwer zu verstehen, warum Europa im Sommer 1914 sich die Pistole an die eigene Schläfe hielt, und wenn es dies schon tat, warum es die Pistole abfeuerte. Wir kennen die üblichen Erklärungen, die Suche nach einem Sündenbock und die Verschwörungstheorien. Je mehr Fakten wir kennenlernen, desto mehr scheint es, das ganze mochte so begonnen haben, dass man in Wien eine schlechte Entscheidung traf, eine andere in Berlin, eine dritte in Sankt Petersburg, eine vierte in Paris und eine fünfte in London – und die vielen schlechten Entscheidungen addierten sich zu einer ganz Europa zermalmenden Katastrophe. Wir, Ungarn, hatten nicht die Möglichkeit, im Schatten der vielen schlechten Entscheidungen eine gute Entscheidung zu treffen. Wir waren nicht souverän. Wir waren an ein multiethnisches Reich gekettet, an einen im Abstürzen begriffenen Felsen, der vier Jahre später den Boden erreichte und zersplitterte. Jedoch auch Europa blutete aus. Den Großen Krieg haben in Wirklichkeit nicht die Mittelmächte verloren, sondern ganz Europa. Es hat durch ihn seinen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss auf die Welt eingebüßt. Auch der Mythos seiner Unverwundbarkeit und seiner moralischen Haltung löste sich auf. Und hinter den Kulissen machten sich die Diktaturen in ihren braunen und roten Hemden schon bereit.
Meine Damen und Herren!
Die Politik, die internationale Politik ist derart, dass es immer eine Pistole gibt, und es gibt auch immer solche, die ohne Verstand nach ihr greifen. Auch heute erleben wir Jahre der Neuordnung der Weltpolitik. Auch heute schreitet die moderne Technologie gerade schneller voran. Auch heute verbreiten sich Ideen, die ihre eigenen Anhänger gefährden und zur Selbstaufgabe verleiten. Und es gibt auch keinen Mangel an führenden europäischen Politikern, deren Denken nicht über den Horizont der Titelblätter des kommenden Tages hinausgeht. Auch heute müssen wir bei Verstand sein, denn wir können unsere ganze Heimat verlieren, wenn wir die Gestaltung unseres Schicksals aus der Hand geben. Wir dürfen nicht in den Strudel der europäischen Ereignisse hineingeraten, wie dies 1914 geschah.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Heute besitzen wir unsere Souveränität, wir haben unseren eigenen Weg, und wir haben auch den über die Grenzen hinwegreichenden nationalen Zusammenhalt, der alle Ungarn zusammenfasst. Wir haben starke Verbündete, die uns zustimmen und sich mutig engagieren. Wir sollten dies hochschätzen und im Interesse der ganzen ungarischen Nation nutzen. Und seien wir stolz, dass das starke, für sich selbst einstehen könnende Land, das István Tisza als das wichtigste Ziel seiner politischen Laufbahn ansah, heute Wirklichkeit ist. Dieses Ungarn verneigt sich heute mit dem seinem Vorläufer zustehenden Respekt vor dem Märtyrer und Ministerpräsidenten. Möge István Tisza Ruhm beschieden sein!