Andrea Földi-Kovács: Am Sonntag werden mehr als acht Millionen ungarische Wähler die Möglichkeit haben, bei den Angelegenheiten Europas mitzureden. Die Wahlen zum Europäischen Parlament stellen für alle politischen Kräfte eine Schicksalswahl dar, deshalb ist es nicht egal, wer und auf welche Weise Ungarn in den kommenden fünf Jahren in Brüssel vertreten wird. Im Studio anwesend ist Ministerpräsident Viktor Orbán. Ich begrüße Sie, guten Abend!
Guten Abend!
Herr Ministerpräsident, vor fünf Jahren haben Sie sich im Studio von HírTV einen Tag vor den Wahlen zum Europäischen Parlament geäußert, und damals hatten Sie gesagt, die EU dürfe nicht so bleiben, wie sie war, man müsse es gründlich durchdenken und man müsse die Gemeinschaft erneuern. Nun ist der Anspruch offensichtlich auch heute noch, fünf Jahre später vorhanden, da die Europäische Union immer weniger so ist, wie sie der Fidesz oder auch Sie gerne hätten. Aber worin oder inwieweit ist die gegenwärtige Situation anders im Vergleich zur damaligen?
Es gibt Dinge von dem vor fünf Jahren Gesagten, die gültig sind, und es gibt welche, die sind inzwischen überholt. Wir sollten uns daran erinnern, dass die letzten europäischen Wahlen vor fünf Jahren waren, also bevor die europäische Migrationskrise spektakulär geworden wäre. Und seitdem hat sich alles verändert, denn die Einwanderung und die Migration bzw. wie die Politiker darüber denken und wie sie sich dazu positionieren, hat alles in Europa verändert. Neue Fragen liegen auf dem Tisch, und es ist auch die Hauptfrage der jetzigen Wahlen, ob Politiker an der Spitze Europas stehen werden, die die Einwanderung befürworten oder solche, die sie ablehnen, ob Europa weiterhin Europa bleibt oder ob es der Kontinent der Europäer bleibt.
Diese Behauptung ist sehr war, und sicherlich geht es auch hierum bei der Wahl. Sie haben heute der Bild-Zeitung ein Interview gegeben und den Journalisten gesagt, „Ungarn haben nicht Recht, Ungarn werden Recht haben”. Aber wenn – nehmen wir an, die Geschichte zeigt dann, welche Seite Recht hat, und, sagen wir, es würde sich bewahrheiten, dass man die Angelegenheiten der EU tatsächlich im Sinne der Politik der die Einwanderung ablehnenden Kräfte hätte gestalten müssen und nicht die Migranten aufnehmen oder integrieren – aber wenn, sagen wir, die offizielle politische Richtung nicht dies getan hätte, was haben dann die Ungarn oder auch die die Einwanderung ablehnenden Kräfte nachträglich davon, dass sie Recht hatten?
Vor dem Nachleben der Wahrheit lohnt es sich auch darüber zu sprechen, dass man Wahrheiten jener Art, die zeitlich zu früh kommen, überleben muss, denn wer vor der Zeit Recht hat, wird häufig zum Ketzer und manchmal wird man auch verbrannt. Nun ist Ungarn natürlich nicht verbrannt, ja, ist nicht einmal angekokelt, denn heute sagen schon immer mehr Stimmen offen, Ungarn habe 2015 Recht gehabt, als es sich nicht ergeben, nicht die Waffen niedergelegt, nicht die Hände in die Luft gestreckt, sondern gesagt hat: „Wir werden handeln, und wir sind in der Lage, unsere Heimat zu verteidigen, wir garantieren die Sicherheit der Menschen, und wir werden jener Invasion der Migranten ein Ende bereiten, die einfach so durch Ungarn hindurchgaloppiert ist.“ Ich glaube also, wir haben jenen ersten schwierigen Zeitraum, den man überleben muss, damit man Recht hat, aber dies noch von niemandem akzeptiert wird, überlebt. Jetzt befinden wir uns in einer zweiten Phase. Jetzt ist deutlich erkennbar, dass ein ansehnlicher Teil der europäischen Menschen – zu welchem Prozentsatz, das werden wir jetzt sehen – immer stärker den Standpunkt einnimmt wie die Ungarn, Europa soll das Europa der Europäer bleiben, wir sollen die öffentliche Sicherheit bewahren, wir sollen den Terrorismus nicht hereinlassen, ohne Erlaubnis soll niemand das Territorium unserer Länder betreten dürfen. Jedes europäische Land soll so bleiben, wie es seine Kultur geformt hat, und eine gewalttätige äußere Invasion großer Kraft soll nicht die Rahmen unseres Lebens verändern können. Meiner Ansicht nach steht diese Stimmung heute der Mehrheit in Europa am nächsten. Am Sonntag werden wir sehen, ob dies so ist. Ich bitte auch in Ungarn einen jeden nur darum, unbedingt wählen zu gehen, denn ich sehe deutlich, wie die Linke in ganz Europa mit gewaltigen Kräften Wahlkampf macht, und wir sollten keine Zweifel hegen, dass die Anhänger der Einwanderung alle dort sein werden. Deshalb sollten auch wir dort sein.
Die Angaben der Meinungsforschungsinstitute stimmen optimistisch. Alle sagen, dies sei schon eine entschiedene Angelegenheit. Alle Meinungsforschungsinstitute sagen ja den Sieg des Fidesz voraus, nur was das Maß angeht, gibt es prozentuale Abweichungen. Sind Sie der Ansicht, dies sei, sagen wir in Ungarn, eine entschiedene Angelegenheit?
Ich würde eher sagen, niemand sollte diesen Sirenengesängen glauben. Eine Wahl entscheiden zunächst einmal die Menschen und nicht die Umfragen, nicht die Prognosen. Es wäre eine Respektlosigkeit zu sagen, eine Wahl sei eine entschiedene Angelegenheit. Wir werden am Sonntag sehen, wie die Menschen entschieden haben. Andererseits gehört dies in die Kategorie der politischen List: den Gegner einzulullen. Nun, auch das ist keine neuartige Sache, oder wie es im ungarischen Volksmärchen heißt: solange zu singen, bis der Vogel den Käse fallen lässt. Wir sollten also dieser Versuchung nicht nachgeben. Eine Wahl ist solange nicht gewonnen, solange die Wahlurnen nicht geschlossen worden sind, und die Chance löst sich niemals selbst von alleine ein. Die Chance müssen wir selbst einlösen. Ich pflege zu sagen, mein bevorzugter politischer Philosoph, ein gewisser Rocky Balboa hat gesagt, das Ende ist immer am Ende. Und man muss sich bis zum Schluss anstrengen, wir alle müssen gehen, wir müssen Wahlkampf machen, und ich werde das auch noch heute tun, auch morgen, ja sogar am Sonntag.
Wie veränderlich die innenpolitischen Verhältnisse in Europa sind und wie wenig alles sicher ist, dafür könnten wir aus der nahen Vergangenheit zahlreiche Beispiele anführen, aber am frischesten ist wahrscheinlich das Beispiel Österreich. Heinz-Christian Strache musste wegen eines in Ibiza aufgenommenen Videos sein Amt niederlegen und auch die österreichische Regierungskoalition hat sich aufgelöst. Der Innenminister der FPÖ sagte, die die Einwanderung befürwortenden Kräfte hätten praktisch die österreichische Regierungskoalition zu Fall gebracht und aufgelöst. Ist Ihrer Ansicht nach auf der Ebene der Politik zu erwarten, dass jene Kräfte oder Krafträume, die jetzt ihre Macht behalten möchten, in naher Zukunft ähnliche Mittel anwenden werden?
Nun, die Tatsachen verweisen darauf, was sie jetzt zitiert haben, denn – Achtung! – seit die Regierung in Österreich umgebildet werden musste und so eine Experten- oder geschäftsführende Regierung entstanden ist, was sehe ich seitdem? Ich sehe, dass die an die Stelle der die Einwanderung ablehnenden Minister aus der FPÖ tretenden Minister als erstes nichts anderes zu tun hatten, als die frühere Entscheidung zu widerrufen, auf Grund der die Freiheitlichen im Übrigen die den Migranten gegebenen Summen in bedeutendem Maße gesenkt und mit einer Politik der Unterstützung der Familien begonnen hatten, die der ungarischen ähnelt. Die erste Sache der Minister der neuen geschäftsführenden Regierung war es, die den Migranten zu gebenden Summen wieder auf das alte Niveau anzuheben. Das zeigt deutlich, dass auf dem jetzigen Kanzler – da ich Herrn Bundeskanzler Kurz als einen die Migration ablehnenden Menschen kenne – ein Druck seitens der Anhänger der Einwanderung lastet, man will in und außerhalb von Österreich die österreichische Regierung in die Herde der die Einwanderung befürwortenden Regierungen zurücktreiben.
Eine Sache ist ja die Meinung der Öffentlichkeit oder inwiefern die Wähler in der EU anders über die Zukunft der EU denken als vor fünf Jahren, doch zur Veränderung der Richtung der Entscheidungsfindung in der EU ist Macht, sind Spitzenpositionen oder gar die Mehrheit im Europäischen Parlament wichtig. Was für einen Sinn würde es haben, in einer größeren Zahl zu sein, wenn – sagen wir – die die Einwanderung ablehnenden Kräfte nicht in ausreichender Zahl vorhanden sein werden? Was für eine Bedeutung besitzen die Verhältnisse in der Zukunft?
Ich empfehle Ihnen, sich nicht nur auf das Europäische Parlament zu konzentrieren. Selbstverständlich werden wir europäische Abgeordnete wählen, auch das Parlament besitzt eine bestimmte Bedeutung in der europäischen Politik, eine viel geringere als in der nationalen Politik. In Ungarn weiß das kaum jemand. Doch entscheiden die Wahlen nicht nur darüber, wie viele Abgeordnete und in welcher Fraktion dann im Europäischen Parlament sitzen werden, sondern sie stärken oder schwächen auch die amtierenden Regierungen, zum Beispiel auch die ungarische Regierung. Denn das wichtigste Gremium der Europäischen Union ist unter dem Gesichtspunkt der Macht der Rat der Ministerpräsidenten, und dieser Rat wird über die Person des zukünftigen ersten Politikers der Europäischen Union entscheiden. Diese Verhandlungen, dieses Gefeilsche – je nachdem, wie man es empfindet –, diese Auseinandersetzung, diese Schlacht beginnt bereits am Abend des Dienstag. Wir sind bereits für Dienstagabend zusammengerufen worden. Und dort hängt das, über was für ein Gewicht jeder und die Meinung, die er über die Kandidaten vorträgt, besitzt, davon ab, wie am Sonntag in den einzelnen Mitgliedsstaaten, wie zum Beispiel hier in Ungarn, die Menschen abstimmen. Wenn sie mir eine starke Legitimation geben, wenn sie meine Stimme verstärken, wenn ich dort in einem guten physischen Zustand erscheinen kann, da die Ungarn ihren Willen eindeutig zum Ausdruck gebracht haben, zum Beispiel dahingehend, dass die EU keine Politiker an ihrer Spitze haben sollte, die die Einwanderung befürworten, dann kann ich diesem Willen dann mit einer größeren Chance Geltung verschaffen, wenn die ungarische Regierung und der Fidesz sowie die Christlich-Demokratische Volkspartei (Kereszténydemokrata Néppárt, KDNP) eine größere Unterstützung bekommen als denn eine geringere. Ich achte also nicht nur auf das Parlament, ja ich achte in erster Linie nicht auf das Parlament, sondern darauf, die Ereignisse im Rat der Ministerpräsidenten beeinflussen zu können. Ich kann dann mit der Kraft und dem Vertrauen der Menschen wirtschaften, wenn wir diese erhalten.
Es gab vor den Wahlen zum Europäischen Parlament mehrere Versuche, noch in der gegenwärtigen politischen Konstellation wichtige Entscheidungen zu treffen. Ich denke hierbei zum Beispiel an die Annahme oder Festlegung der Grundlagen des Haushaltes der EU für 2021-2027. Was für Entscheidungen, Angelegenheiten oder Untersuchungen sind im Zusammenhang mit Ungarn noch offen, deren Ausgang – sagen wir – sehr eng davon abhängt, wie das neue Europäische Parlament sein wird?
Bleiben wir für einen Moment auch noch in diesem Zusammenhang bei der Einwanderung. Denn über die Einwanderung pflegen wir, Ungarn, ich glaube auf richtige Weise, auf Grund unserer historischen Erfahrungen entlang solcher Begriffe zu sprechen und zu denken, wie gemischte Bevölkerung, wie die Bewahrung der christlichen Kultur, wie nationale Identität. Das sind die wichtigsten Dinge. Doch zugleich besitzen all diese auch eine wirtschaftliche Seite. Jetzt kommen die Daten: Ich habe in den vergangenen Tagen die Ausgaben der westeuropäischen Länder sehen können, wie viel sie für die Kosten des Umgangs mit den, der Handhabung der Migranten oder der Migration aufgewendet haben. Das sind gewaltige Zahlen. Die Einwanderung und die Migration bringen also nicht nur ein kulturelles Problem über uns, sie verringern nicht nur die öffentliche Sicherheit, sondern sie würden auch finanziell Ungarn das Rückgrat brechen. Wenn wir also über die Finanzen des kommenden Zeitraumes sprechen, denn der Haushalt für die kommenden sieben Jahre stellt eine offene Frage dar, dann ist es die wichtigste Sache für uns, zu erreichen, dass das Geld der europäischen Steuerzahler nicht für die Einwanderung aufgewendet wird, sondern, sagen wir, zur Unterstützung der Familien und für Entwicklungen. Und damit sind wir so dann bei der wichtigsten offenen Frage angekommen, und diese ist, wie, auf Grund welcher Prinzipien die Europäische Union dann zwischen 2021 und ’28 wirtschaften wird.
Welche sind diese konkreten Fragen? Denn wir können an dieser Stelle natürlich im Allgemeinen verbleibend Überlegungen anstellen, doch verstehen vielleicht nur wenige, oder können die Bedeutung dessen nachempfinden, auf welche Weise – sagen wir – ein Haushalt der EU unser Leben im Alltag beeinflussen könnte?
Betrachten wir zum Beispiel die Situation der ungarischen Dörfer und die der Landwirtschaft. Es gibt Vorschläge, die bedeutende Summen aus der Agrarförderung wegnehmen wollen, und diese in Richtung der Migration umgruppieren möchten. Dies ist den Interessen der ungarischen Landwirte, des ungarischen Dorfes, der ungarischen Landwirtschaft entgegengesetzt. Aber ähnlich ist es mit der Summe, die für das Aufschließen der zurückgebliebenen Regionen, für die wissenschaftliche Forschung aufgewendet werden kann: Wie kommen wir an diese und wird ihre Verteilung verhältnismäßig sein? Diese Fragen stellen alle große und umstrittene Angelegenheiten dar, die uns bevorstehen, und bei deren Entscheidung es zählen wird, wie am Sonntag in Ungarn die Menschen votieren.
Vor einigen Monaten haben der Fidesz, die KDNP und die ungarischen politischen Parteien jener Gebiete, die einst zu Ungarn gehörten, in Klausenburg eine politische Deklaration unterschrieben. Das Wesentliche dieser Deklaration war, dass sie auch weiterhin innerhalb des Europäischen Parlaments auf einer gemeinsamen, ungarischen Plattform auftreten und nachdenken wollen. Wenn ich mich schon so ausführlich auf die frischesten Ergebnisse von Meinungsumfragen bezogen habe, so gibt es auch eine hierzu. Diese zeigen, dass nach dem derzeitigen Strand der Dinge weder die Ungarn aus Oberungarn noch jene aus Siebenbürgen eine Vertretung im Europäischen Parlament haben werden. Was sagen Sie jenen Ungarn, die jenseits unserer Landesgrenzen leben, und noch darüber nachdenken, ob es sich an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilzunehmen lohnt, und für wen man stimmen sollte?
Es hängt nur von uns ab, ob sie eine Vertretung haben werden. Gehen wir also hin, und geben wir unsere Stimme für sie ab. Gehen wir nach Siebenbürgen, und stimmen wir für die Liste der RMDSZ (Demokratische Union der Ungarn in Rumänien). Gehen wir nach Oberungarn, und stimmen wir für die Liste der dortigen ungarischen Partei. Nicht auf die der gemischten Partei, nicht auf die Liste von Most-Híd, sondern auf die der ungarischen Partei, der MKP (Partei der ungarischen Gemeinschaft). Es liegt also nur an uns, Ungarn, ob die Teile unserer Nation jenseits unserer Landesgrenzen eine Stimme und eine Vertretung in der EU haben werden. Darüber hinaus würde ich die dort lebenden Menschen noch damit anspornen, dass wir immer darüber gesprochen haben, wie gut es wäre, wenn endlich ein Ort existieren würde, an dem alle ungarischen Gemeinschaften über einen Vertreter verfügten, und wir einen einheitlichen ungarischen nationalen Standpunkt vertreten könnten. Das Brüsseler Parlament ist eben so ein Ort. Dies ist also heute der einzige Ort, an dem die aus den Gebieten des alten Ungarn stammenden ungarischen Gemeinschaften gleichermaßen über eine Vertretung verfügen. Hierzu war natürlich auch der Beschluss des Fidesz und der Christlich-Demokratischen Volkspartei notwendig, denn auf unserer Liste besitzt selbst die nicht zur Europäischen Union gehörende Woiwodina und auch die Karpatenukraine eine Vertretung. Wenn also die Siebenbürger und die Oberungarn kommen, dann kann es eine vollkommene, eine die ganze Nation umfassende ungarische Vertretung in Brüssel geben.
Sie sagten, es sei nicht egal, mit welcher Unterstützung Sie in den Europäischen Rat gehen werden. Welche innenpolitische Dimension oder Wirkung haben darüber hinaus die Wahlen zum Europäischen Parlament?
Jede Wahl erhält ihr Gewicht dadurch, dass die Menschen ihre Meinung mitteilen, und in dieser Meinung ist auch immer mitenthalten, was sie über die Zustände in Ungarn bzw. die politischen Akteure in Ungarn denken. Dies möchte ich jetzt hier nicht ausführen. Ich werde dazu auch an anderer Stelle die Möglichkeit haben, doch sehe ich jetzt, auch nach schon mehreren einander folgenden Wahlen, dass eine Stimmung zur Abwahl der Opposition besteht. Es ist eine viel spannendere Frage, wer die Opposition anführen wird, als die, wie die Regierung bzw. die Regierungsmehrheit aussehen wird. Ich bin der Ansicht, wir müssen in Ungarn sehr viel arbeiten, doch erbringt Ungarn immer bessere Leistungen, und man kann es kaum leugnen, dass wir jedes Jahr einen Schritt nach vorne machen können, und die Menschen möchten vorankommen. Deshalb habe ich das Gefühl, dass die Regierung über Unterstützung verfügt, und dies eine viel spannendere Frage ist, als die, ob wir sie gegen die Opposition eintauschen sollten, und wenn ja, dann gegen welche.
Auch die Opposition mobilisiert, übrigens im In- und Ausland gleichermaßen. So wie Sie es gesagt haben, ermuntert jeder seine eigenen Sympathisanten dazu, zur Wahl zu gehen. Jeder mit einer anderen Parole. Die die Einwanderung ablehnenden Kräfte mit dem Aufhalten der Migration, aber es gibt auch Kräfte, die zum Beispiel den Klimaschutz auf ihre Fahnen geschrieben haben, und damit bringen sie europaweit sehr viele Jugendliche auf die Straße. Heute zum Beispiel, am Freitag, werden sie an vielen Orten in Ungarn demonstrieren. Ich nenne auch den Namen der Organisation, die dies organisiert, das ist die FridaysForFuture Ungarn. Wer weiß, wer hinter ihnen steht? Man kann aber auf ihrer Homepage sehen, dass dies eine Organisation ist, die sich an die Open Society bindet und die auch Kontakte zu Avaaz hat. Und mit der Mitwirkung von Avaaz gelang es in kurzer Zeit 77 nationale, konservative und die Einwanderung ablehnende Plattformen und Facebook-Seiten zu sperren, jetzt im Endspurt der Wahlen zum Europäischen Parlament. Wenn Sie ein OSZE-Beobachter wären, würden Sie um die Sauberkeit der Wahlen bangen?
Ich muss immer wieder über die westlichen Meinungen lachen, in denen es um die russische Einmischung geht. Natürlich muss man aufmerksam sein, denn kein Land ist geradezu ein Engel. Doch ist die Wahrheit die, dass wir in Ungarn nicht unter dieser leiden, sondern unter der Soros’schen Einmischung, sofern diese eine amerikanische ist, dann können wir diese auch so nennen. Doch würde ich eher sagen, dass es die Einmischung dieser liberalen Weltmafia ist, die in Ungarn Leid verursacht oder unzuständig zu sein scheint, denn hier versuchen außerungarische Akteure, indem sie sehr viel Geld bewegen, kampagnenmäßig einen Einfluss auf das Ergebnis der ungarischen Wahlen auszuüben. Das gleiche gilt auch für die Pressefreiheit. Ungarn wird wegen der Pressefreiheit kritisiert, aber wenn ich einen Blick auf die westeuropäische Realität werfe, dann sehe ich, dass, sagen wir, in Westeuropa die liberale Presse etwa 85% der Öffentlichkeit ausmacht, und die konservativ-christliche 15. In Ungarn beträgt das Verhältnis meiner Ansicht nach halbe-halbe. Und das ist die Voraussetzung, das Gleichgewicht ist die Voraussetzung für die Pressefreiheit. Wir können also ruhig sagen, dass in Ungarn Pressefreiheit herrscht, umfassend, und im Westen nur begrenzt.
Sprechen wir dann auch noch ein bisschen über die westliche Presse. Ich würde mich noch auf Ihr Interview mit der Bild-Zeitung beziehen. Sie sagten, Sie würden alles für den Erfolg der Volkspartei tun, und Sie wünschten sich, dass die Volkspartei möglichst gut bei den Wahlen zum Europäischen Parlament abschneiden solle. Sie äußern sich auch weiterhin diplomatisch über jene Parteienfamilie, mit der Ihr Konflikt in der letzten Zeit sich zugespitzt hatte – so wie Sie sich übrigens in diesem Interview auch sehr diplomatisch über Angela Merkel geäußert haben. Man hat das Gefühl, Sie wollen keine Politiker und politischen Gruppen aufgeben, die Sie bzw. den Fidesz aufgegeben haben. Warum? Was ist Ihr Plan?
Also erstens erwarten meiner Ansicht nach die ungarischen Menschen von den ungarischen Politikern, dass diese Gentlemen sein sollen, besonders wenn es um Damen geht, weshalb ich auch immer einen über das Obligatorische hinausgehenden Respekt gegenüber Angela Merkel zeigen werde, unabhängig davon, dass es in zahlreichen wichtigen und großen Fragen eine Diskussion zwischen uns beiden gibt. Aber das, was jemandem zusteht, das steht der Person zu. Einerseits, weil sie von den Deutschen gewählt worden ist, andererseits weil es sich um eine Dame handelt sowie um eine Politikerin, die eine starke Führungspersönlichkeit ist und schon viele Ergebnisse erreicht hat, die Respekt fordern, und diesen werde ich ihr auch immer zollen. Ob sich die Wege der Europäischen Volkspartei und des Fidesz scheiden werden, darauf können wir jetzt keine Antwort geben, denn hierbei werden zwei einander folgende Entscheidungen notwendig sein. Als erstes müssen wir betrachten, wie die Europäische Volkspartei bei den Wahlen abgeschnitten haben wird. Ich wünsche mir, dass wir so gut wie möglich abschneiden. Danach wird es eine schmerzhafte Diskussion geben, in der es darum gehen wird, was wir mit diesem Erfolg anfangen sollen. In welche Richtung soll die Europäische Volkspartei weiter schreiten. Soweit ich das sehe, sind immer noch jene in der Mehrheit, die das Schicksal der Europäischen Volkspartei, also das der europäischen Menschen, also der Menschen christlicher, nationaler Gesinnung mit dem Schicksal der europäischen Linken verbinden wollen, die im Übrigen schon über das Christentum, über die christliche Kultur hinwegschreiten, ein gemischtes Europa, die Einwanderung wollen und überhaupt aus der Tradition der europäischen Politik austreten wollen, die wir aber lieben und die wir bewahren wollen, auch wenn ständig diese verändernd, doch hinsichtlich ihres Wesens bewahrend. Jetzt will die Volkspartei ihr Schicksal mit solch einer Linken verbinden. Dies ist aus dem Gesichtspunkt unserer Gemeinschaft tragisch, dieser Weg führt nirgendwohin. Schon jetzt ist die Situation die, dass ich nicht sagen kann, worin der inhaltliche Unterschied zwischen den beiden Spitzenkandidaten, von denen der eine der Volkspartei angehört und der andere sozialistisch ist. Einen morphologischen Unterschied sehe ich, aber keinen inhaltlichen. Diese Menschen sagen das gleiche, und zwar sprechen sie die gleiche Brüsseler Blabla-Sprache, als Vertreter einer solchen in einer Blase lebenden Gemeinschaft, und ich kann nicht sagen, wodurch der eine ein konservativer Rechter und wodurch der andere ein Sozialist ist. Dies ist für uns in der Volkspartei ein schwerer Schlag. Meiner Ansicht nach müssen wir zu den Menschen zurückfinden. Ich möchte nach den Wahlen eine Wende innerhalb der Europäischen Volkspartei, die nicht nach links, sondern eher nach rechts führen sollte, oder uns zumindest auf dem Pfad der Vertretung der Menschen hält. Also wird es nach den Wahlen, wenn die Europäische Volkspartei Erfolg haben sollte, noch eine große innere Debatte geben, und wenn wir in dieser Diskussion unterliegen, und die Volkspartei sich in eine Richtung wendet, die der Kultur, der Gefühlswelt und den Zielen der ungarischen Menschen entgegengesetzt ist, dann werden wir ihnen nicht in den Brunnen hinterherspringen, dann werden wir auf einer anderen Route weiterschreiten, auf einer Route, die den Interessen der ungarischen Menschen entspricht.
Erlauben Sie mir noch eine letzte Frage. Sie haben hier in Ungarn, solange dies noch zutraf, immer wieder betont, Sie hätten länger in der Opposition politisiert als an der Regierung. Sie waren stolz auf diese oppositionelle Phase. Sind Sie eventuell auch darauf vorbereitet im Europäischen Parlament, wenn sie sich nicht mit der Volkspartei verständigen können, oder wenn gegebenenfalls die EVP explodiert und in kleinere Fraktionen zerfällt, dann in der Opposition Politik zu machen?
Die Ausdrücke Regierungspartei und Opposition kann man in der europäischen Politik nicht deuten, denn die Kooperationen zwischen den Gruppierungen entstehen immer entlang der Besetzung des einen oder des anderen Postens, also von Machtfragen, oder im Zusammenhang mit der einen oder der anderen konkreten Entscheidung, also Angelegenheit. Und diese lösen sich dann auf, und bilden sich dann neu. Anstatt irgendwo eingegliedert zu sein, halte ich es also für wichtiger, dass wir in jeder einzelnen Angelegenheit untersuchen sollen, worin das ungarische Interesse besteht, und wir dementsprechend Vereinbarungen mit jenen treffen, mit denen dies möglich ist. Ich rechne also nicht mit einer stabilen Konstruktion nach den Wahlen in der europäischen Politik, sie wird durcheinander geraten, wird sich ordnen, und die Zusammenarbeit von Fall zu Fall, von einem wichtigen Thema zum anderen voranschreitend wird eine größere Bedeutung besitzen als das große umfassende Abkommen. Zumindest ist dies mein Eindruck, aber auch das werden dann die ungarischen bzw. die europäischen Wähler entscheiden, und Montagmorgen werden wir schon klüger sein.
Herr Ministerpräsident! Ich danke Ihnen, dass Sie hier waren.
Ich danke dafür, hier gewesen sein zu dürfen.