Bevor sich jemand noch erschrecken sollte, ich übernehme nur das Mikrophon, aber nicht die Bühne, und ich werde auch nicht singen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau Genscher! Sehr geehrte Familie Bettermann!
Ich habe eine recht gute Rede für Fabrikeinweihungen, doch habe ich erkannt, dass hier jetzt eine viel größere Aufgabe auf mich wartet. Ich muss hier jetzt gleichzeitig drei Dinge tun. Zunächst muss ich die weltberühmten Musiker, die als Gast in unser Land gekommen sind, auf würdige Weise begrüßen; ich muss in europäischem Zusammenhang unseres Herrn Außenministers Genscher gedenken, und danach muss ich der menschlichen Leistung Respekt zollen, mit deren Hilfe jetzt eine Investition – mehreren hundert ungarischen Familien das tägliche Brot ermöglichend – hier ihre Tore öffnet.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wenn mir jemand in meiner Jugend gesagt hätte, als wir die Knöpfe an dem Radio der Marke Sokol hin- und herdrehend diese Töne im Programm von Radio Freies Europa gesucht haben – wenn ich mich richtig erinnere, dann in der Zusammenstellung eines Herrn namens László Kasza –, dass wir diese Menschen alle persönlich in Ungarn werden sehen können, und zwar in einer Gemeinde namens Bugyi, und das Apropos hierfür würde kein neues Woodstock sein, sondern eine Fabrikeinweihung, welche Fabrik auch noch ein in Ungarn investierender Deutscher betreiben würde – nun, wenn mir jemand dies zu Beginn der achtziger Jahre gesagt hätte, dann hätte ich sicherlich gesagt, er habe seinen Verstand verloren. Trotzdem sind wir hier, meine Damen und Herren, und auf den ersten Blick ist die Antwort darauf auch gar nicht offensichtlich, was diese vier Dinge – die Musiker, die Familie Bettermann, die Familie Genscher und uns, Ungarn – denn verbindet. Aber wenn Sie die Aufschrift auf dem Sockel der Büste lesen, dann werden Sie die Antwort auf diese Frage finden. Vermutlich werden es die Künstler weniger wissen, denn ihr Leben lief woanders ab, aber jene Sehnsucht nach Freiheit, die schließlich diese historische Wende mit sich brachte, als deren Ergebnis wir ohne den Verlust eines einzigen Menschenlebens den Kommunismus gestürzt, die Sowjets von hier, aus Ungarn und auch aus Ostdeutschland, nach Hause geschickt haben, dass all dies gelingen konnte, denn die Sehnsucht nach Freiheit ist aus den Herzen der Menschen nicht ausgestorben, nun, dieses gewaltige historische Kunststück beinhaltet auch ihre Lieder. Wir haben ihnen also zu danken, und es ist gut, dass sie jetzt hier mit uns zusammen sind, denn unser Erfolg ist auch ihr Erfolg. Und selbstverständlich umfasst dieses historische Meisterstück auch alle diplomatischen Meisterleistungen, Manöver und die Genialität von Hans-Dietrich Genscher, die er im Interesse des Ausbaus der Beziehungen zwischen Ost und West vollbracht hat. Es beinhaltet den Mut der deutschen Unternehmer, darunter auch jenen der Familie Bettermann, die bereits in einer Zeit die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Ost und West aufbaute, als wir noch keine Ahnung davon haben konnten, das wir einmal in einer freien Welt leben würden. Und es umfasst natürlich auch uns, Ungarn, die wir es kaum erwarten konnten, im Zeichen der Parole „Russen, geht heim!“ endlich die Freiheit, die Unabhängigkeit Ungarns wiederzugewinnen und unsere Unterdrücker loszuwerden. Also all das findet sich in jenem Satz, der hier hinter meinem Rücken zu lesen steht. „Keine Macht der Welt kann Menschenwürde und Freiheit auf Dauer stoppen.” Der Optimismus Genschers klingt aus diesem Satz heraus. Dieser unser Optimismus ist inzwischen schon ein bisschen verblichen, in der Welt ist solch eine Macht leider möglich, aber dass es sie in Europa nicht geben kann, das ist ganz gewiss.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wir haben hier Bilder sehen können, die die zur Freiheit Europas führenden Bilder der Grenzöffnung, Maueröffnung, des Grenzdurchbruchs mit den Trabis waren. So wie unser Gastgeber dies auch jetzt getan hat – wofür wir ihm danken –, haben die Deutschen den Ungarn viel zu verdanken, denn wir haben den ersten Ziegelstein aus der Berliner Mauer herausgeschlagen, und wir können hinzufügen, dass der Zug dann durch das eine Ziegelloch hindurch den gesamten Kommunismus hinausgetragen hat. Und das ist wahr, und wir danken Ihnen, dass Sie sich daran erinnern. Doch hier vor dem Andenken an unseren Herrn Außenminister Genscher stehend muss ich auch einige Worte über die andere Seite der Medaille sagen. Denn wir, Ungarn, aber ich könnte auch sagen, Polen, Slowaken, Tschechen, Rumänen wussten auch ganz genau, dass solange es keine deutsche Wiedervereinigung geben würde, es auch keine Garantie dafür gibt, dass unsere nationale Unabhängigkeit und Freiheit anhaltend sein wird. Wir hatten schon immer gewusst: Damit in Europa die mitteleuropäischen Völker für eine lange Zeit anhaltend frei und unabhängig sein können, ist die geopolitische Voraussetzung die Einheit Deutschlands. Deshalb sollten wir jetzt hier, am Fuße des Genscher-Denkmals stehend unser Haupt verneigen und mit Respekt jener deutscher Staatsmänner gedenken, die niemals das Ideal des einheitlichen Deutschland aufgegeben haben. Man hat hier vor mir schon den bayerischen Ministerpräsidenten Strauß ins Gedächtnis gerufen, ich erinnere an Helmut Kohl, und hier ist unter uns in Vertretung der Familie Genscher auch die Gemahlin von Herrn Außenminister Genscher. Ihnen haben wir es zu verdanken, dass die geopolitische Voraussetzung der mitteleuropäischen Freiheit, die deutsche Einheit, schließlich verwirklicht worden ist. Also erlauben Sie mir, jetzt nicht den Dank der Deutschen anzunehmen, sondern im Namen der Ungarn den Deutschen dafür zu danken, dass sie ihre Träume nicht aufgegeben hatten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Und an diesem Punkt muss ich natürlich auch jene Anmerkung in Klammern öffnen – um einen langfristigeren ungarischen Traum an dieser Stelle zu erwähnen, dass Strauß einer der führenden Politiker der CSU, Bundeskanzler Kohl der CDU und Herr Außenminister Genscher der FDP war. Unterschiedliche Parteizugehörigkeiten, wenn es aber um die nationale Sache ging, dann gab es keinen Parteienstreit, dann gab es nur eine einzige Sache: das deutsche Interesse und die deutsche Einheit.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Dies ist auch für uns, Ungarn, eine gute Lektion. Es gibt hier noch eine Sache, die ich Ihnen erzählen möchte, damit nunmehr mich vor der Familie Bettermann verneigend. Auch das ist eine Frage, ob diese beiden Männer – Hans-Dietrich Genscher und unser Gastgeber, Herr Bettermann –, die sich gekannt haben, aus ungarischer Perspektive auch darüber hinaus noch etwas gemeinsam haben? Und ich muss sagen, ja. Wir haben auch heute in Deutschland viele Freunde, die uns dies auch sagen – unter vier Augen; wir haben viele Freunde in Deutschland, die sich zu uns bekennen – Zuhause, in ihren vier Wänden; jedoch hatten und haben wir nur sehr wenige Freunde, die, wenn es sein muss, sich auch dem europäischen Hauptstrom entgegenstellend sich zu den Ungarn und zur deutsch-ungarischen Freundschaft bekennen. Hans-Dietrich Genscher war ein mutiger Mensch, der sich auch dann zu seiner Meinung bekannte, wenn der Hauptstrom gerade von ihr abwich, und die Treue und die Freundschaft waren ihm wichtiger als irgendein günstig gestimmter Leitartikel auf der Titelseite einer morgigen Zeitung. Er war immer unser Freund, er war von Herzen und ehrlich unser Freund, aus diesem Grunde hielt er auch immer daran fest, dass wir, Ungarn, gemeinsam mit den anderen mitteleuropäischen Ländern in die Europäische Union gehören, weil wir ein europäisches Volks sind, und unser Platz sich in der Gemeinschaft der europäischen Völker, in der Union befindet. Ich möchte jetzt, mich an seine Gemahlin wendend, der Familie Genscher dafür danken, dass sie immer an dem Europäertum Ungarns und Ungarns Mitgliedschaft in der Europäischen Union festgehalten haben. Und dies ist der Punkt, an dem wir auch vor unserem Gastgeber, Herrn Bettermann, den Hut ziehen müssen, denn er ist unser Freund, nicht nur unter vier Augen, und er bekennt sich zu uns, und nicht nur Zuhause, in seinen vier Wänden, sondern immer und überall.
Sehr geehrter Herr Vorsitzender Bettermann!
Mit dankbarem Herzen danke ich Dir im Namen Ungarns für jene Freundschaft und jenes Engagement, das Du in den vergangenen Jahren ungebrochen in unsere Richtung gezeigt hast, und wodurch Du unsere Arbeit unterstützt hast. Der liebe Gott soll Dich hoch leben lassen!
Erlauben Sie mir, jetzt dann mit einem Sprung im Heute anzukommen. Es gibt einen etwas zynischen, aber auf das Wesentliche hindeutenden angelsächsischen Spruch über die große Veränderung der Welt in den vergangenen vierzig Jahren. Er hört sich in etwa so an, dass im Kommunismus das am schlimmsten sei, was nach ihm folgt. Natürlich haben die Angelsachsen nicht unter dem Kommunismus gelebt, weshalb sie auch keine Ahnung haben, wie schlecht es ist, unter dem Kommunismus zu leben. Deshalb bedarf dieser Satz der Korrektur: Es ist auch dann sehr schlecht, wenn man im Kommunismus lebt, aber wenn man ihn hinter sich hat, muss man sich auch dann mit einem sehr schweren Erbe auseinandersetzen. Nach dem Kommunismus ist man arm, nach dem Kommunismus sind die Familien ausgeplündert, nach dem Kommunismus ist auch die Heimat arm, nach dem Kommunismus ist die Nationalwirtschaft kaputt, nach dem Kommunismus gibt es in einem Land kein auf Investitionen wartendes Privatkapital, nach dem Kommunismus kann man ohne Hilfe wirtschaftlich nicht auf die Beine kommen, nach dem Kommunismus erscheinen zuerst immer die Spekulanten, die auf die Weise Geld aus Geld machen wollen, dass sie dabei keinen Wert erschaffen. Also nach dem Kommunismus ist es schwer, und ohne Freunde geht es nicht. Jetzt ist vielleicht dieser Anlass ein guter Moment, um in der Person von Herrn Bettermann jedem deutschen Unternehmer zu danken, der in den ersten schweren Jahren nach dem Kommunismus in Ungarn erschienen ist, daran geglaubt hat, dass wir eine Zukunft haben sowie die Freundschaft der Deutschen und der Ungarn für wichtig hielt. An dieser Stelle merke ich in Klammern an, dass das ungarische Volk zu jenen gehört, die die Deutschen nicht nur respektieren, sondern auch lieben. Die Freundschaft war ihnen wichtig, sie sahen die geschäftliche Möglichkeit und vertrauten uns. Sie sind hierher gekommen, haben Fabriken gegründet, Arbeitsplätze geschaffen, den ungarischen Familien Brot gegeben und dabei geholfen, dass ungarische Unternehmer auf jenem Weg losgehen, dem schweren Weg der Familienunternehmen, auf dem auch sie vor vierzig, fünfzig, hundert, hundertfünfzig Jahren losgegangen waren, und gaben den ungarischen Unternehmen die Möglichkeit, Zulieferer zu sein. Herr Bettermann, wir schätzen dies hoch ein, und wir empfinden Ihre Erfolge und die Ihres Familienunternehmens auch als unsere eigenen, wir wünschen Ihnen noch viele ähnliche geschäftliche Erfolge wie diesen, den wir heute feiern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Erlauben Sie mir, auch einige Worte an die hier angestellten ungarischen Arbeiter zu richten, weil ich nicht möchte, dass der Eindruck entstünde, Ungarn habe seine Ergebnisse und Erfolge der vergangenen Jahre von irgendjemandem geschenkt bekommen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte hier angestellte Arbeiter!
Die Lage ist die, dass Herr Bettermann aus dem Grunde hier bleibt und deshalb hier eine weitere Halle eröffnet, weil Sie mit Ihrer Arbeit bewiesen haben, dass Sie auch auf dem höchsten deutschen Niveau arbeiten und die Aufgaben erfüllen können. Die nach Ungarn kommenden Investitionen verdanken wir natürlich zum Teil den Investoren, aber zu einem zumindest gleichen Teil auch den ungarischen Arbeitern, die bewiesen haben, dass es sich lohnt, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Und ich weiß, dass Herr Bettermann auch immer die hier arbeitenden ungarischen Menschen und ungarischen Familien geschätzt hat, weshalb ich ihm danken möchte. Erhalte Gott Ihre gute Angewohnheit! Wenn ich meine Unterlagen richtig gelesen habe, dann habe ich darin sehen, darin lesen können, dass dieser Betrieb heute der erfolgreichste Tochterbetrieb der Firma Bettermann ist, und wir alle sind Teil dieses Erfolgs. Die ungarische Wirtschaftspolitik gehört dazu, die Investoren gehören dazu, die Kunden gehören dazu, alle Anstrengungen der Familie von Herrn Bettermann, die lange Jahrzehnte zurückreichen, gehören dazu, und dazu gehören die hier angestellten ungarischen Arbeiter. Aber auch diese Siedlung gehört dazu, und jene Siedlungen aus der Gegend gehören dazu, deren Bürgermeister ich jetzt hier begrüße, die diese Fabrik aufgenommen haben und mit ihren Entscheidungen dazu beitragen, dass der gemeinsame Erfolg weiter ausgebaut werden kann. „Bettermann Ungarn“ ist eine Erfolgsgeschichte, die gemeinsame Erfolgsgeschichte der Bettermanns, der Ungarn und der Deutschen. Gebe es Gott, dass sie noch über eine lange Zeit weiter ausgebaut werden kann.
Ich danke Ihnen, dass Sie mich angehört haben!