Viktor Orbáns Erklärung nach der Sitzung des Europäischen Rates
25. März 2022, Brüssel (Bruxelles)

Eszter Baraczka (Ungarisches Fernsehen): Herr Ministerpräsident, zu Beginn der Woche haben Sie, bevor Sie noch hierher, nach Brüssel, zu diesem Marathon an sehr vielschichtigen Gipfeltreffen losgefahren wären, dahingehend formuliert, es lägen auch sehr gefährliche Vorschläge auf dem Tisch der NATO und der Europäischen Union. Wir wissen bzw. ich nehme an, wir wissen, dass Sie an drei Dinge gedacht haben, ob die NATO sich auf irgendeine Weise in den Krieg in der Ukraine einmischt bzw. in das Ölembargo bzw. in das Gasembargo. Es scheint, als ob es jetzt gelungen wäre, diese Dinge abzuwenden.

Tatsächlich müssen wir immer die Grundfrage stellen, welches die Situation ist, in der wir uns befinden. Und es gibt Länder, die sagen, dies sei ein Krieg, an dem auch sie auf irgendeine Weise einen Anteil haben. Und wir, Ungarn, sagen, es gibt einen russisch-ukrainischen Krieg, der wird in unserer Nachbarschaft geführt, wir können nicht gleichgültig sein, es gibt menschliches Leid, Millionen von Menschen in Not, und es gibt ungarische Interessen, die ein Krieg in der Nachbarschaft immer in Gefahr bringen kann, d.h. wir sind in einer gefährlichen Situation, doch stehen wir auf der Seite Ungarns und betrachten diese Situation mit einem ungarischen Kopf, aus ungarischer Perspektive. Wir helfen denen, die in Not geraten sind, doch wollen wir unsere eigenen nationalen Interessen zur Geltung bringen, sie verteidigen. Es gibt Länder, die möchten, dass die NATO oder die Europäische Union bis zu einem gewissen Grad – selbst auch nachdrücklich – zu einem Teil des Konflikts werden würde. Und es gibt Länder, wie zum Beispiel Ungarn, die diesem Krieg fernbleiben möchten. Diese Debatte läuft manchmal in offenerer und manchmal in versteckterer Form. Deshalb besitzen solche Gipfeltreffen eine Bedeutung, damit sich diese beiden Standpunkte miteinander messen können, wer wo steht, und hinter welchem Standpunkt wie viele stehen. Was ich ihnen jetzt sagen kann, ist, dass sich auf dem NATO-Gipfel eindeutig herausgestellt hat, dass hinter dem ungarischen Standpunkt mehr Stimmen stehen. Deshalb hat die NATO auch ausgesprochen, dass sie nicht Teil dieses Krieges ist, nicht an ihm teilnehmen möchte, ihm fernbleiben möchte, und weder Waffen noch Soldaten sendet und auch keine Flugverbotszone anordnet – das ist der Standpunkt der NATO. Natürlich wenn es Mitgliedsstaaten geben sollte, die darüber hinausgehen möchten, auf eigene Verantwortung irgendetwas machen möchten, wird die NATO das nicht verhindern, aber von ihrer Seite aus hat sie eine zurückhaltende, mit dem ungarischen Standpunkt vollkommen übereinstimmende Position ausgebildet. Das war die NATO. Dann ist hier die Europäische Union, wo es schon eher um die Frage der wirtschaftlichen Sanktionen ging, wo es erneut ein verständlicher Vorschlag ist, wenn wir den Ukrainern helfen wollen und möchten, dass es möglichst schnell Frieden gibt, dann sollten wir den Russen klar machen, dass es für sie sich nicht lohnt, diesen Krieg fortzusetzen. Das ist eine richtige Bestrebung, denn auch meiner Ansicht nach ist es heute am wichtigsten, dass es Frieden geben soll, die Medizin für jede Not, für jeden Schmerz kann man nur auf dem Weg des Friedens erringen. Wir sind also auf der Seite des Friedens. Doch kann man nicht Frieden auf die Weise schaffen, dass wir Sanktionen anwenden, solche Sanktionen, die uns mehr weh tun, als den Russen. Wenn wir aber die Sanktionen auf die Energie ausweiten, entsteht die Situation, dass die ungarische Wirtschaft unter einen unerträglichen Druck gerät, während dies auf die Russen vermutlich überhaupt keinen Effekt hat. Deshalb hat also Ungarn klargestellt, dass die Ausweitung der Sanktionen auf das Energiesystem ein ungeeignetes Mittel ist, um dadurch Schritte in Richtung des Friedens zu tun. Das muss auf andere Weise geschehen, grundlegend auf dem Weg diplomatischer Verhandlungen.

Jetzt ist all das vom Tisch, die Europäische Union wird keine Sanktionen auf Energie erheben, doch kann das alles wieder auf den Tisch kommen, wenn Präsident Putin, sagen wir, eine rote Linie überschreitet, was die Europäische Union nicht toleriert. Haben Sie darüber gesprochen, was so eine rote Linie, sagen wir, sein könnte?

Ich halte dies nicht für das wahrscheinlichste Drehbuch, wir müssen eher dem zustimmen und eher damit rechnen, dass wenn die Ministerpräsidenten zusammenkommen, dann werden diese beiden Standpunkte immer und immer wieder vertreten sein. Wir haben also vor zwei Wochen in Versailles bereits gesagt, dass wir keine Soldaten schicken, keine Waffen senden, und wir wollen nicht, dass die Europäische Union oder die NATO ein Teil dieses Krieges werde. Wir haben auch gesagt, dass wir auch keinen Luftkrieg wollen, also keine Flugverbotszone. Zwei Wochen sind vergangen, und diese Vorschläge sind wieder vorgebracht worden. Ich muss also sagen, da die Standpunkte unterschiedlich sind, treten diese Vorschläge bei jedem einzelnen internationalen Treffen an die Oberfläche, und Ungarn muss sich jedes Mal, wieder und immer wieder für seine eigenen nationalen Interessen einsetzen. Deshalb ist es nicht egal, was für eine Regierung Ungarn besitzt, eine Regierung, die für die nationalen Interessen einsteht oder eine solche, die mit den Großen oder gerade den ihnen Respekt einflößenden anderen Ländern selbst in einer untergeordneten Rolle mitlaufen will. Wir sind eine Regierung, die sich für die nationalen Interessen einsetzt, und das wollen wir auch im kommenden Zeitraum tun. Das hat auch Ergebnisse zur Folge, denn heute ist es die größte Veränderung, dass über die beiden Länder, die hier häufig kritisiert wurden, über Polen und Ungarn, jetzt im Ton der höchsten Anerkennung gesprochen wird. Also ein jeder sieht die gewaltige Last, die die polnischen und ungarischen Menschen auf ihrem Rücken tragen. Polen, obwohl es ein Land mit 40 Millionen Einwohnern ist, vielleicht noch eine größere als wir, denn dorthin sind 2,5 Millionen Flüchtlinge gegangen, aber zu uns kamen auch mehr als fünfhunderttausend. Das sind im Verhältnis zur Bevölkerung gezählt etwa fünf Prozent der gesamten ungarischen Bevölkerung. In dieser Hinsicht tragen wir im Verhältnis die größte Last, und Ungarn besteht diese Probe auf fantastische Weise, das sieht ein jeder. Darüber geht es in den Berichterstattungen, wer hierherkommt, sich die Arbeit an der Grenze ansieht, der sieht das. Wir haben sehr viele Freiwillige, die Aktivisten, die zivilen Organisationen, die Kirchen arbeiten auf fantastische Weise, die ungarischen Menschen haben offene Herzen, es gibt bei ihnen keinen Egoismus, sie helfen den Ukrainern voll und ganz. Es ist gleichgültig, was für Diskussionen wir früher mit den Ukrainern hatten, sagen wir in der Angelegenheit der ungarischen Minderheit, das zählt jetzt nicht, denn die Ukrainer sind in Not, wir helfen ihnen, und auch der ungarische Staat funktioniert gut, denn er hat ja die Verteidigung und die Aufnahme der Flüchtlinge organisiert. Das hat hier sehr große Anerkennung ausgelöst, doch sind sie sich auch im Klaren darüber, dass dies auch eine Last ist. Deshalb habe ich darauf gedrängt, dass die für Ungarn zugänglichen finanziellen Quellen so schnell wie möglich geöffnet werden sollen, und seitens der Kommission ist die Antwort auch schon angekommen. Sie haben die ersten 300 Millionen Euro, was mehr als 100 Milliarden Forint sind, auf elastische Weise, im Vergleich zu den früheren Zielen viel freier, schneller zugänglich gemacht, für Ungarn zugänglich und nutzbar gemacht. Das alles haben wir also unseren Freiwilligen zu verdanken, das Land selbst hat sich diese Beurteilung erkämpft.

Ich kann es nicht nicht fragen, denn es kam ja in den Berichterstattungen vor, dass zugleich der ukrainische Präsident nicht mit der NATO zufrieden war; er formulierte dahingehend, die NATO habe die Ukraine im Stich gelassen, die Europäische Union habe zwar gehandelt, doch hat sie in der Sache der Sanktionen spät Schritte eingeleitet, und er hat Sie auch persönlich angesprochen und kritisiert, und er sagte, Ungarn würde der Ukraine nicht in ausreichendem Maß helfen. Wie kann man in so einer Situation besonnen bleiben und die entsprechende Antwort auf so eine Formulierung geben, denn schließlich ist die Ukraine ja doch angegriffen worden, sie steht unter Beschuss, und dies beeinflusst sicherlich die Meinung, die Stimmung des Präsidenten.

Die Ukraine ist in einer schwierigen Situation, man hat sie ja doch angegriffen und es herrscht Krieg auf ihrem Territorium. Und einen Teil ihres Gebietes haben sie bereits auch schon verloren, und Millionen von Menschen mussten die Ukraine als Flüchtlinge verlassen. Dies ist doch ein herzerweichendes, sehr schwieriges Gefühl. Die erste Sache ist also, dass man in dieser Situation den ukrainischen Präsidenten verstehen muss, dass er in einer solchen Situation möchte, die ganze Welt möge den Schmerz mit ihm teilen, sie nicht nur den Flüchtlingen helfen würde, sondern die ukrainische Position einnehmen und sofort eingreifen würde. Er bittet darum, die NATO möge einmarschieren, sie solle eine Luftschlacht eingehen, solle Waffen senden. Ich verstehe das, denn das ist ein vollkommen verständlicher Gesichtspunkt der Ukrainer, doch sind wir keine Ukrainer und sind auch keine Russen, sondern Ungarn. Doch darüber hinaus, dass Ungarn jedem in Not geratenen ukrainischen Menschen hilft – ich würde selbst an Stelle des ukrainischen Präsidenten nicht vergessen, dass wir vielen hunderttausenden Ukrainern helfen, wir geben ihnen Speise und Trank, Kindergärten, Kinderkrippen, Schulen stehen zur Verfügung, wir geben Unterkünfte, sie können bei uns bleiben, sie können Arbeit erhalten, wir helfen also –, aber wir wollen in diesen Krieg nicht hineingezogen werden, denn das ist den ungarischen nationalen Interessen entgegengesetzt. Die Antwort auf die Frage, wo Ungarn steht, lautet: Ungarn steht auf der Seite Ungarns.

Sie haben jetzt in zwei vertraulichen, langen Gesprächen gesessen, eines in der NATO, das andere hier. Was können Sie uns, Außenstehenden davon mitteilen, die wir uns doch Sorgen machen, und die wissen möchten, wie sehr wir uns Sorgen machen müssen, wie sehen Sie die Situation?

Wir sollten von dem Punkt ausgehen, dass Ungarn Mitglied der NATO ist. Die NATO ist einheitlich und stark, ja sogar sehr-sehr stark. Viel stärker als Russland. Wir können also darauf vertrauen, dass alle Mitgliedsstaaten der NATO, Ungarn, Polen, hinter ihnen die Deutschen, dann die Franzosen und die Amerikaner, also die NATO gemeinsam eine gewaltige Kraft vertritt. Wenn die Ungarn auch selbst das machen, was zu machen ist, sie haben eine Armee, wenn sie diese an der Grenze aufmarschieren lassen, nicht wahr, wenn zu sehen ist, dass wir bereitstehen, um uns zu verteidigen, dann werden auch die anderen verbündeten Länder uns helfen, und so sind wir zusammen stärker als jeder andere auf der Welt. Eine größere Sicherheitsgarantie als diese existiert heute nicht. Also nach menschlichem Ermessen, nach allem menschlichen Ermessen gibt es heute also keinen sichereren Ort und keine sichereren Länder auf der Welt als die Mitgliedsländer der NATO, darunter Ungarn. Doch zugleich ist dies ein Krieg, und er tobt in unserer Nachbarschaft. Man muss bei Sinnen bleiben. Entscheidend ist hier also die strategische Ruhe, die Nüchternheit, die Berechenbarkeit, die genauere Bestimmung der ungarischen Interessen und das dementsprechende Handeln, aber ich habe das Gefühl, dass Ungarn bisher über diese Tugenden verfügt hat.

Indirekt ist es aber unvermeidbar, glaube ich, dass der Krieg auf uns eine Wirkung haben wird. Jetzt gab es im Laufe des heutigen Tages eine sehr lange Diskussion über die Energie, die astronomischen Energiepreise, verbunden mit der schwierigen Situation, dass in der Nachbarschaft ein Krieg tobt, und einer der kriegführenden Parteien ist der größte europäische Energielieferant, es geht, nicht wahr, um Russland. Die Europäische Union würde gerne von der russischen Energie unabhängig werden, im Interesse einer größeren Versorgungssicherheit. Erlauben Sie mir ein Beispiel anzuführen. Hier, in Belgien, haben wir diese Woche einen Brief von unserem Stromlieferanten bekommen, und man teilte uns mit, dass wir ab Juni statt der monatlichen 80 Euro nunmehr 230 Euro bezahlen werden – nur für den elektrischen Strom. Was für beruhigende Antworten können Sie nicht nur mir, sondern all jenen besorgten Europäern geben, denen es genauso geht?

Wir haben heute über Stunden diese Frage behandelt. Auch unabhängig vom Krieg sind die Energiepreise bereits in den vergangenen Monaten nach oben gegangen, dies hat der Krieg nur noch verstärkt, und dem kann man nicht tatenlos zusehen. In Ungarn haben wir den Weg gewählt, Entscheidungen zu treffen, und wir haben den Preis des Kraftstoffs, der grundlegendsten Lebensmittel begrenzt, wir haben eine Senkung der Nebenkosten durchgeführt und diese verteidigen wir. Jedes Land gibt also darauf eine Antwort. Doch ist die Wahrheit, dass auf nationaler Grundlage die Antworten nicht ausreichen werden, man muss darauf auch eine gemeinsame europäische Antwort geben. Denn ein Grund für den Anstieg der Energiepreise ist jene Politik, die hier in Brüssel gemacht wird, und die absichtlich, kontinuierlich den Preis der Energie anhebt, da sie davon ausgeht, wenn der Preis der Energie höher sein wird, dann werden die Menschen davon weniger verbrauchen, und damit unterstützen wir das Klima oder können das Klima retten. Und diesen Prozess, die von Brüssel aus dirigierte Anhebung der Energiepreise wollen sie nicht unterbrechen. Heute konnten wir zu keinem Ergebnis miteinander kommen, aber es wird noch Diskussionen darüber geben, denn es ist meine persönliche Überzeugung, dass so lange der Krieg dauert, diese auf die Anhebung der Energiepreise aufbauende Brüsseler Politik ganz einfach ausgesetzt werden muss. Man darf weder die aus Kohle noch aus Öl und aus Gas gewonnene Energie bestrafen, denn heute ist nicht die Frage, was mit dem Klima sein wird, sondern die Frage ist, was wird mit unseren Familien geschehen. Es gibt also schwierige Situationen, in denen es sich lohnt, vorübergehend die eine oder die andere Politik auszusetzen und sie in Klammern zu setzen, doch davon sind wir noch sehr weit entfernt, denn darüber denken die Länder und die Ministerpräsidenten auf sehr unterschiedliche Weisen. Doch meiner Ansicht nach wird, wenn das so weitergeht, auch hier früher oder später sich die Notwendigkeit gegenüber den Zielsetzungen durchsetzen, und man wird auch hier, in Brüssel, einsehen, dass Brüssel seine auf die absichtlich ansteigenden Preise basierende Politik beenden oder zumindest so lange aussetzen muss, bis der Krieg nicht zu Ende geht, und die Dinge nicht zu ihrem normalen Gang zurückfinden. Doch ist das nicht die Aufgabe des heutigen Abends, das ist die Frage der Schlachten der kommenden Wochen.

Vielen Dank!

Ich danke auch!