Sehr geehrter Herr Staatspräsident, sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Gedenkende Ungarn weltweit, diesseits und jenseits der Grenzen!
Es ist würdig und recht, dass wir als Schlussakkord unseres Nationalfeiertags hier in der Musikakademie unser Haupt vor den Revolutionären von ’56 verneigen. Auch der Freiheitskampf von 1956 begann auf die Weise, wie unsere Revolutionen in der Regel zu beginnen pflegen. In den Zeiten unserer Revolutionen hat die Zündschnur das Deklamieren Petőfis oder von Sinkovits, der virtuose Vortrag eines jungen Pianisten oder der „Bánk bán“, eventuell die Ouvertüre einer Oper angezündet. Am 22. Oktober 1956 spielte György Cziffra, der hier an der Musikakademie studiert hatte, das Klavierkonzert Nr. 2 von Bartók im Erkel Theater. Laut den zeitgenössischen Aufzeichnungen brach der Applaus aus den Reihen des Publikums, nachdem er den letzten Ton gespielt hatte, heraus wie die glühende Lava. Diesem jungen Pianisten hatten die Kommunisten zuvor seine Hand zerschlagen, danach ließen sie ihn drei Jahre in einem Bergwerk Steine brechen. Nachdem er wieder frei war, musste er das Klavierspielen neu erlernen. Jene, die an diesem Abend damals dort waren, wussten: Das, was sie sahen, war nicht nur ein Konzert, es war die Auferstehung selbst, die Auferstehung und der Sieg eines jungen Künstlers. Es ist keine Überraschung, dass die zweitausend, ansonsten disziplinierten und ordnungsliebenden Bürger, das verständige Publikum der klassischen Musik begeistert aus dem Konzertsaal auf die Straße drängte, und wo es hinkam, jedwede kommunistische Schande von den Wänden riss.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gedenkende!
Wenn wir an die Helden von 1956 denken, sehen wir zuerst Jugendliche vor uns. Pester Jungen und Mädchen, die mit einem alles hinwegfegenden Mut das Wort, die Hand und die Waffe gegen die Besatzer und deren Statthalter erhoben. Wir rufen uns ihre strahlenden Gesichter in Erinnerung, wie sie ihre Arme ineinander eingehakt in dem Oktoberfrühling auf den Straßen Budapests dahinschritten. Ihre Jugend trug sie, ihr Glaube trug sie, sie könnten das Schicksal ihrer Heimat wenden. Sie wussten es, oder zumindest fühlten sie es: Wenn sich die sowjetische Welt fortsetzt, dann wird von dem ungarischen Leben nichts mehr übrigbleiben. Die Geschichte von tausend Jahren wird verschwinden, und der rote Schlamm wird alles mitnehmen, verätzen und auflösen: den Glauben, die Kultur, die Familie, die Freunde. Er wird alles durcheinanderbringen und zerstreuen, was dem Leben einen Sinn gibt, und woraus man sich sein Heim und seine Heimat errichten kann. Elf Jahre nach dem Weltkrieg wusste bereits jeder nüchterner ungarische Mensch, auch jene, die nicht religiös erzogen worden waren, dass der Kommunismus selbst der große Zerstörer ist. Sie mussten etwas tun. Sie griffen also zur Waffe, da sie sahen, es würde keinen anderen Ausweg geben. Im Feuer, in Fetzen, verwaist und glücklich. Mit der Entschlossenheit jenes Menschen, den man an den Abgrund gedrängt hat und der weiß, es gibt nichts mehr, wohin er zurückweichen könnte. Es blieb nur ein einziger Weg: um das Stückchen Boden zu kämpfen, das noch ihm gehört. Mit der Helligkeit eines Blitzes drang es in das Bewusstsein der Ungarn, auch in jenes derer, die keine nationale Erziehung erhalten hatten, dass wir, Ungarn, nur diese eine Heimat besitzen. Es gibt keine andere. Nirgendwo anders ist für uns ein Platz unter der Sonne, nur dieser Winkel des Erdenrundes ist unser. Unsere Träume können nur hier geboren werden und nur hier, im Karpatenbecken können wir jene große Schöpfung vollbringen, die wir Ungarn und ungarische Kultur nennen. Sándor Márai schrieb, die Heimat sei nicht nur Erde und Berg, tote Helden, Muttersprache, die Knochen unserer Ahnen in den Friedhöfen, Brot und Landschaft. Nein, die Heimat sind wir, mit Haut und Haaren, in unserer körperlichen und seelischen Beschaffenheit; sie hat uns geboren, sie begräbt uns, wir leben und drücken sie in all den elenden, großartigen, flammenden und langweiligen Momenten aus, deren Gesamtheit unser Leben ausmacht. Und unser Leben ist auch ein Moment des Lebens der Heimat. Das hat Sándor Márai richtig ausgedrückt, so ist es. Die Heimat sind wir alle, mit Haut und Haaren. Das ist das Gesetz. Und Gesetz ist es auch, dass es Heimat nur solange gibt, solange es jemand gibt, der sie liebt. Heimat gibt es nur solange, solange es jemanden gibt, der für sie ein Opfer bringt. Es ist Gesetz, dass es Heimat nur dort gibt, wo es auch Patrioten gibt. Und Heimat wird es nur solange geben, solange es mehr Patrioten gibt als Kollaborateure, als die in fremden Sold Stehenden und die ungarischen Mitglieder der jeweils existierenden internationalen Brigaden zusammengenommen. Die Niedrigkeit addiert sich immer, die Frage ist nur, ob die Patrioten bereit sind, sich zu addieren. Wir Attila József es lehrte: „Bezwingt Euch. Und zuerst, beginnt mit der einfachsten Sache – addiert Euch, damit Ihr, auf gewaltige Weise aufgewachsen, Euch auch an Gott, der die Unendlichkeit ist, irgendwie annähert.” Und wir haben uns im Oktober 1956 addiert. Und wenn wir uns schon addiert haben, da haben wir auch ein Wunder vollbracht. Wir haben ein Wunder vollbracht und uns in nie gesehene Höhen erhoben.
Meine Damen und Herren!
Auch heute leben wir von diesem Wunder. Es stimmt, wir haben einen hohen Preis dafür gezahlt, aber das ungarische Wunder gibt es nicht billig. Etwa dreitausend Tote während der Kämpfe, 228 Hingerichtete, zwanzigtausend Eingekerkerte und 170 tausend Geflohene. Die ’56-er Freiheitskämpfer haben das Schönste, das Höchste und das teuerste gegeben, das ein Mensch seiner Heimat opfern kann. Sie gaben ihr Leben, sie gaben ihre Freiheit, sie nahmen die Verbannung auf sich: das bittere Brot, von der Heimat losgerissen zu sein.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gedenkende!
Am 23. Oktober 1956 forderte die ungarische Nation zurück, was ihr von alters her zustand, sie wollte frei darüber entscheiden, wie sie leben soll. Und wir wollten auch damals eine ungarische, das heißt eine europäische Lebensform für uns.
Ein freies und unabhängiges Ungarn im Europa der Nationen. Und darin lag auch kein Widerspruch, denn die westliche Hälfte Europas war damals noch tatsächlich die gemeinsame Heimat der freien Nationen. Es ist eine alte Mahnung, dass kein einziges Land, keine Stadt und kein Haus erhalten bleiben kann, das mit sich selbst uneins ist. Weder Europa noch Ungarn kann erhalten bleiben, wenn es sich gegen sich selbst und gegen das wendet, was es am Leben lässt. Es kann nicht erhalten bleiben, wenn es sich gegen seine eigene Vergangenheit und gegen seine Helden wendet, wenn es mit der auf dem Dreierfundament von Freiheit, Unabhängigkeit und christlicher Brüderlichkeit entstandenen, ehrenhaften Lebensform bricht, die Europa und in ihm Ungarn zum erfolgreichsten Erdteil der Weltgeschichte gemacht hat. Wir schulden unseren Vorgängern dafür Dankbarkeit, dass sich unser ungarischer Charakter im Laufe eines solch langen Reihe von Freiheitskämpfen herausbilden konnte, der uns auch zusammen mit allen unseren Mängeln und mit allen unseren schlechten Momenten zu einem großartigen und ritterlichen Volk gemacht hat.
Sehr geehrte Gedenkende!
Das abgedroschenste, das trivialste Wortbild der ungarischen politischen Reden ist das von der „historischen Lektion“. Aber ich glaube, wir denken nur selten darüber nach, worüber wir sprechen, wenn wir die Lektionen der Geschichte erwähnen. Diese Lektionen bedeuten nicht die Aneignung theoretischer Kenntnisse, sondern ganz im Gegenteil: Sie sind sehr praktisch. Ja, die historischen Lektionen setzen auch immer Prüfungen voraus. Das muss so sein, denn die Geschichte ist eine ständige Herausforderung, ein Gemessenwerden und Eignungstest. Das Schicksal eines Volkes, die Zukunft einer Nation, das Erhaltenbleiben oder der Untergang eines Staates hängt von den Antworten, den richtigen oder falschen Antworten ab. Ja, bei diesen Prüfungen kann man auch durchfallen. Es gibt solche, die zurückgestuft werden, und die zur Nachprüfung müssen; es gibt jene, die endgültig aus der Schule, das heißt aus der Geschichte hinausfallen, und andere können in die höheren Klassen versetzt werden. Unsere Ahnen zeigten an solchen Scheidewegen und in solchen Grenzsituationen eine überzeugende und imponierende historische Leistung, wie es die Landnahme, die Staatsgründung, die Annahme und die Verteidigung des Christentums, der Freiheitskampf von 1848-49, der Ausgleich oder der Aufstand gegen die kommunistische Diktatur und die sowjetische Besatzung es waren. Es ist leicht, es als einen natürlichen Zustand anzusehen, dass wir eine freie, unabhängige und auf edlen Idealen aufgebaute Heimat, Ungarn, besitzen. Aber wir haben die Heimat nicht als Geschenk erhalten. Sie ist uns nicht auf einem Ausritt und nicht beim Glücksspiel in den Schoß gefallen. Wie viele Völker mag es wohl im Laufe der Geschichte gegeben haben? Sicherlich mehrere tausend. Und wie vielen gelang es, eine Heimat zu erringen und sie bis auf den heutigen Tag zu behalten? Ungefähr zweihundert. Und unter diesen zweihundert befindet sich auch Ungarn. Und nicht in der zweiten Hälfte der Tabelle. Die ungarische Nation wurde im Herbst ’56 durch eine historische Leistung in eine höhere Klasse versetzt, dessen moralische Ausstrahlung man auf der ganzen Erde verspüren konnte. Wir wissen, da ja viele von uns auch noch in der alten Welt gelebt haben, dass die kalte Welt des Kommunismus langsam die menschliche Würde zermahlt. Deshalb pflegt nach der Besatzung das Gefühl der Leere, der Selbstaufgabe und der Kleinlichkeit zu bleiben. Aber wir, Ungarn, sind auch davon eine Ausnahme. Wir haben es den ’56-ern zu verdanken, dass wir in den dunklen Stunden der Geschichte, auch während der langen Jahre der sowjetischen Besatzung unsere Haltung bewahren, unser Haupt erheben konnten, wenn auch im Verborgenen, aber es gab etwas und es gab jemanden, auf das und die wir stolz sein konnten. Die ’56-er haben gesiegt, denn sie haben uns, ihren Nachkommen nicht die menschliche Schwäche, nicht den Zwiespalt, sondern die Größe des Mutes und des Heldentums als Erbe hinterlassen. Obwohl die heutigen Jugendlichen damals noch nicht lebten und es ein Glück ist, dass sie nicht zur Zeit der Diktatur der Besatzer leben mussten, bezweifle ich nicht, dass die heutigen Pester Jungen und Mädchen, wenn es sein müsste, sich genauso blendend bewähren würden, wie es ihre Großeltern 1956 getan haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Der Seemann weiß, er kann sein Schiff dann in den Hafen manövrieren, wenn er nicht nur das Wasser beobachtet, sondern auch auf die Sterne achtet. Wir, Ungarn, haben im Laufe von tausend Jahren das Wissen gewonnen, in der dahinfließenden Zeit nicht auf das sich Verändernde, das Flüchtige zu blicken, sondern immer auf das Ständige und das Bleibende. Auf Gott, auf die Heimat, auf die Familie. Auch heute können wir uns keinen besseren Leitstern wählen. „Denn das Wasser läuft hinweg und nur der Stein bleibt, aber der Stein bleibt.” Gloria victis! Ehre den Helden!