Viktor Orbáns Interview in der Sendung „Guten Morgen Ungarn” von Radio Kossuth
14. Oktober 2022

Zsolt Törőcsik: Trotz der über Russland in den vergangenen Tagen und Wochen verhängten Sanktionen hat sich die Kriegslage weiter verschlechtert. Beide Seiten, die Russen und die Ukrainer haben die Intensität der Kämpfe an den verschiedenen Fronten erhöht. In der Zwischenzeit bricht die Inflation europaweit Rekorde und aus vielen Ländern kommen bereits darüber Meldungen, dass immer mehr Unternehmen geholfen werden muss, damit sie weiterhin tätig sein können. Unser Gast im Studio ist Ministerpräsident Viktor Orbán. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen!

Guten Morgen!

Es ist ja zu einem Grundsatz der westlichen Politik im vergangenen Zeitraum geworden, dass man mehr und immer mehr Sanktionen gegen Russland im Interesse der Beendigung des Krieges fordert. Und ein genau solcher Grundsatz ist es geworden, dass man immer mehr und mehr Waffen in die Ukraine schickt, damit den Krieg verlängernd. Wie passen diese beiden Dinge zusammen?

In unserem Kopf passen sie auch nicht zusammen. Man muss sich in einer solchen Situation entweder auf das eine oder das andere Bein stellen, man muss sich entscheiden, was man will. Es gibt Stimmen, die darüber sprechen, dass der Krieg gewonnen werden muss. Und andere – hierher gehört Ungarn – sprechen darüber, dass ein sofortiger Waffenstillstand und danach Friedensverhandlungen notwendig sind. Ich war in Berlin, und dort kam diese Frage mehrfach zur Sprache, besonders dass wir eine Nation von Freiheitskämpfern sind, die 1956 gegen die Besatzungstruppen der Sowjetunion einen Krieg auf sich genommen haben, und man pflegt zu fragen, warum ein so kämpferisches Volk, ein Volk von Freiheitskämpfern auf der Seite des Friedens steht? Und ich erinnerte sie daran, dass man Ungarn nicht erklären muss, wie die aus dem Osten kommende, mit der sowjetischen Armee verbundene Brutalität ist und wie es jetzt sein mag, gegen die Russen zu kämpfen, denn man geht – jetzt ist ja gleich der 23. Oktober da – und sucht die Parzelle Nummer 301 auf, und dann weiß man, wie das ist, und wir können vielleicht auch noch sagen, dass man unseren Selenskyj, den damaligen ungarischen Ministerpräsidenten später hingerichtet hat. Wir wissen also, was Brutalität ist und was der Krieg ist, doch wenn wir es bedenken, wir haben damals 1956 nicht deshalb gekämpft, weil wir gedacht hätten, wir würden die Sowjetunion besiegen. Wir sind eine Revolution und einen Freiheitskampf eingegangen, um den Waffenstillstand und die Friedensverhandlungen zu erzwingen. Wir dachten, man könne eine Friedensverhandlung erreichen, die das Endziel der bewaffneten Schlacht ist, im Rahmen welcher Friedensverhandlung dann die Russen mit den Westlern eine Übereinkunft würden darüber schließen können, dass auch wir, so wie Österreich, neutral sein können. Die Erlangung der Freiheit, den letzten Akt haben wir auch damals im Rahmen einer Friedensverhandlung erhofft. In meinem Kopf befindet sich unsere Logik von’56, der Freiheitskampf und die Friedensverhandlungen im Großen und Ganzen an einer Stelle, denn irgendwie muss man den Großen, den Starken, den Besatzer dazu zwingen, seine Pläne aufzugeben; und das ist durch das Besiegen, durch einen militärischen Sieg, da man damals den Sowjets gegenüberstand und jetzt den Russen, kaum zu erreichen, deshalb sind Friedensverhandlungen notwendig. Es gibt also ein Friedenslager, wenn ich so formulieren darf, in Europa, jene, die dieser Logik folgen. Der Heilige Vater spricht sich aus für den Frieden. Kissinger spricht sich für den Frieden. Ich war in Deutschland, dort gibt es einen hochangesehenen Philosophen, der Habermas heißt, es ist im Übrigen ein Linker, er gehört nicht zu unserer politischen Gemeinschaft, er sagt das ebenfalls. Jetzt gibt es auch schon amerikanische Republikaner, soweit ich das sehe, amerikanische, bedeutende, ja als weltweite Faktoren geltende Geschäftsleute. Ich habe das Gefühl, dass die Stimme, nach der ein Waffenstillstand nötig ist und nach dem Waffenstillstand Verhandlungen, wird immer stärker. Dies würde auch die wirtschaftliche Erleichterung mit sich bringen, denn solange der Krieg dauert und der Westen mit Sanktionen antwortet, werden weder die Inflation noch die Energiepreise zurückgehen, also zu den anständigeren, gesünderen, faireren Preisen, wirtschaftlichen Bedingungen führt der Weg über den Waffenstillstand und den Frieden

Zugleich könnten ein Instrument für den Zwang zum Frieden die Sanktionen sein – wenn sie Russland schwächen würden.

Wir haben auf der Welt auch schon gute Sanktionen gesehen – übrigens nicht viele. Wenn jemand die Seiten der Geschichte durchblättert, dann kann man sagen, dass die Länder mit den Sanktionen vorsichtig sind, denn von zehn Sanktionen pflegen sich nur zwei-drei zu bewähren, und manchmal tun sie dem mehr weh, der sie verhängt hat, als dem, über den sie verhängt worden sind. Wir haben in der Weltgeschichte auch schon erfolgreiche Sanktionen gesehen, doch die muss man dann gründlich ausarbeiten, muss sie gut durchdenken und man muss dafür sorgen, dass die Nebenwirkungen der Sanktionen nicht auf den sie Verhängenden eine größere destruktive Wirkung haben als auf den, über den sie verhängt worden sind. Jetzt ist das Problem, dass man in Brüssel dies ver… – hierfür gibt es einen bei Fußballfans beliebten Ausdruck, den ich jetzt nicht ausspreche, aber – das hat man versemmelt. Diese Sanktionen sind also schlecht ausgearbeitet. An sich schon sind Energiesanktionen ein zweifelhaftes Problem. In der Weltgeschichte pflegen jene Sanktionen zu verhängen, die in der Übermacht sind. Nun ist es in der Energiefrage zweifelhaft, ob wir eine Übermacht besitzen, denn wir sind ja Käufer, und die Russen sind die Lieferer. Also so etwas, dass ein Riese über Zwerge Sanktionen verhängt, pflegen wir zu sehen, doch dass der Energiezwerg – dies wären wir, die Westler – Sanktionen über den Energieriesen verhängen würde, ist doch sehr ungewöhnlich. Da wir seit sechs Monaten die Europäische Kommission drängen, neben die Sanktionen auf jeden Fall einen Vorschlag über die Senkung der Preise auf den Tisch zu legen, dies aber nicht getan hat, haben wir jetzt eine Sanktionsinflation und wir zahlen jetzt bei der Energie einen Sanktionsaufpreis wegen der schlechten Sanktionen, wir können die Energiepreise nicht kompensieren, die Preise sind wegen der schlechten Sanktionen angestiegen, und wir alle zahlen den Preis dessen.

Ist so ein Preissenkungsvorschlag überhaupt auf der Tagesordnung in der Europäischen Union? Denn auf der anderen Seite sehen wir, die Erklärungen deuten zumindest in diese Richtung, dass Brüssel versucht, auf dem Weg der Sanktionen weiter voranzuschreiten, denn der Plan des Gaspreisdeckels ist ja kontinuierlich auf der Tagesordnung und, nicht wahr, im achten Sanktionspaket gibt es schon einen Ölpreisdeckel, von dem zwar Ungarn eine Befreiung erhalten hat.

Ungarn macht Folgendes: Wir verfolgen zuerst einmal bis ins Detail, Buchstaben für Buchstaben die auf den Tisch gelegten Sanktionsvorschläge, also unsere besten Leute arbeiten jetzt im Außenministerium auf diesem Gebiet. Wir untersuchen jeden Buchstaben, nicht damit die Sanktionen irgendeine offensichtliche oder gar versteckte Konsequenz haben, die für Ungarn negativ wären. Und danach, wenn wir das gefunden haben, denn so etwas gibt es immer, wenn es uns gelungen ist, dies zu entdecken, dann starten wir den Kampf dafür, dass sich die Sanktionen keinesfalls auf Gebiete erstrecken, die für uns nicht gut sind, oder wenn sie sich erstrecken, dann sollen sie da auch eine Kompensation daneben hinlegen. Doch bisher haben sie neben nichts eine Kompensation hingetan, wir können also eine einzige Kampftaktik haben, und die ist, dass wir bis auf Messers Schneide dafür kämpfen, dass Ungarn von den Konsequenzen der Sanktionen befreit wird. Wenn wir sie schon nicht aufhalten können, dann soll man uns unbedingt befreien. Und das haben wir bisher auch erreicht, wir haben im Fall aller Sanktionspakete von den auf den ungarischen Energiemarkt eine negative Wirkung ausübenden Sanktionen eine Befreiung erhalten können. So waren dann die Sanktionspakete auch gar nicht mehr interessant für uns. Das Problem entspringt aber daraus, dass wir auf einem gemeinsamen europäischen Markt sind, und Ungarn sich zwar von bestimmten negativen Folgen befreien kann. Zum Beispiel kaufen die Westler kein russisches Öl, und wir kaufen welches. Sie stellen ihre Systeme um, denn sie haben eine Meeresküste und sie können auf Schiffen Energie transportieren, Öl oder Flüssiggas, wir können das aber nicht. Doch ist die Wahrheit, dass wenn die Preise in Europa hochgehen, dann reißen sie, ziehen sie auch die ungarischen Preise mit sich. Die endgültige Lösung gegenüber den hohen Energiepreisen würde also bedeuten, wenn die Europäische Union auf diese Sanktionspolitik verzichten würde. Davon sind wir weit entfernt, dafür müssen wir noch sehr viel kämpfen. Doch sind wir nicht chancenlos, da es das System der Sanktionen ist, dass sie alle sechs Monate erneuert werden müssen. Jetzt wird es das nächste Mal irgendwann im November, Dezember so eine Schlacht geben und am Ende des darauffolgenden halben Jahres wird es erneut so einen Zeitpunkt geben. Die Europäische Kommission hat also die Möglichkeit, zu einer besseren Einsicht zu gelangen und jene Fehler zu korrigieren, die sie bisher begangen hat, Es gab in Prag einen Gipfel der Ministerpräsidenten in der vergangenen Woche, dort wächst die Unzufriedenheit, also jener Ton, den zuvor nur Ungarn angeschlagen hat, wird jetzt schon allgemein. Alle sagen: „Aber Ihr habt doch nicht dies versprochen! Ihr habt versprochen,“ – ich nenne jetzt auch gar nicht die Spitzenpolitiker anderer Länder, aber führende Politiker seriöser Länder sagen „Ihr habt versprochen, dass die Sanktionen den Russen mehr weh tun würden als uns. Wir wissen nicht genau, wie sehr sie den Russen wehtun, aber uns tun sie es sehr stark, das ist sicher. Ihr habt auch versprochen, dass dies vernünftige Sanktionen sein werden. Diese sind das nicht! Und Ihr habt auch versprochen, dass uns dies der Beendigung des Krieges näherbringen würde; stattdessen eskaliert der Krieg.“ Also jetzt ist Ungarn nicht mehr das einzige Land, das die Frage stellt: „Was geschieht hier? Und in wessen Interesse ist das, was hier geschieht?“ Denn während wir uns selbst von der russischen Energie abschneiden, holen wir die Energie aus Amerika herein. Und wenn ich die amerikanischen Gaspreise mit dem Gaspreis vergleiche, zu dem die Amerikaner das Gas in Europa verkaufen, dann sehe ich dort einen riesigen Unterschied: In Amerika ist die Energie fünfmal-zehnmal billiger als hier bei uns, die wir von ihnen kaufen. Hier ist also irgendetwas nicht in Ordnung und deshalb müssen wir unseren amerikanischen Freunden die Frage stellen: „Nun aber, meine lieben Freunde, was läuft hier? Wer gewinnt an dieser Sache? Denn wir, Europäer, verlieren mit Sicherheit, und wir haben den Eindruck, dass Ihr gewinnt, und die Russen verlieren zumindest nicht. Das Ganze ist also so zusammengesetzt, dass daran wir, Europäer, nur verlieren können.

Und, nicht wahr, eine Sache ist die Frage der Preise und die andere ist die Versorgungssicherheit. Und, nicht wahr, im Zusammenhang mit dem Preisdeckel haben die Russen eindeutig gemacht, dass wenn es so etwas geben wird, dann stellen sie die Lieferung des Öls und auch des Gases ein. Und da gab es doch in den vergangenen Wochen Sprengungen, Lecks der verschiedenen Öl- und Gasleitungen. Wie berührt dies die Versorgungssicherheit Ungarns? Kann unter allen Umständen, auch aus dem Süden das Gas und das Öl gesichert werden?

Hier muss man einen energischen Ton anschlagen. also das, was geschehen ist, dass man Gasleitungen gesprengt, ihnen Lecks beigebracht hat, das ist eine schwerwiegende Angelegenheit. Am häufigsten höre ich den Ausdruck „Sabotage“, doch habe ich auch auf dem Gipfel der Ministerpräsidenten gesagt, dies ist unsere Auffassung und nach dem ungarischen Recht ist das eine terroristische Tat. Und wenn da irgendein Staat seine Hand im Spiel hat, dann ist das ein Terrorstaat, der das durchgeführt oder dazu Unterstützung geleistet hat. Das müssen wir aus dem Grund in diesem energischen Ton sagen, denn einerseits sind wir auch nicht naiv, und das ist nicht in diesem Teil der Welt geschehen, sondern an einem Ort, der sich irgendwo dort in der Umgebung der schwedisch-dänischen Gewässer befindet. Dort wird also jeder Quadratzentimeter ständig aus dem All beobachtet. Mir können sie also nicht einreden, dass sie nicht sagen können, was denn geschehen sei, wer im vergangenen Zeitraum dort war und wann wer was gemacht hat. Wir leben in einer Zeit, in der über die Satelliten selbst durch das Fenster unserer Wohnungen hineingeblickt wird, wenn wir nicht die Gardinen zuziehen, wir müssen also auch im Interesse des Schutzes unseres eigenen Privatlebens vorsichtig sein, und dann können sie im 21. Jahrhundert die zur Ausführung einer so großen Terroraktion notwendigen Bewegungen nicht detektieren, sie festhalten. Das können sie einem Ungarn nur schwer glauben machen. Aber egal, das ist die Sache der großen Jungs, die werden dann untersuchen, was ist. Was für uns wichtig ist, und deshalb muss man in einem energischen Ton reden, dass die letzte Leitung einer großen Kapazität, die Gas aus dem Süden bringt, russisches Gas aus dem Süden nach Europa, so auch nach Ungarn transportiert, die türkische Leitung, die als Türkische Pipeline bezeichnete Leitung ist, hier versorgen wir, durch diese versorgen wir Ungarn. Und ich habe klargestellt, dass wenn diese jemand sprengt oder funktionsuntüchtig macht, dann wird dies auch Ungarn, doch das hat früher bereits auch Serbien ausgeführt, denn die Leitung kommt über ihr Land, das werden wir als einen terroristischen Angriff betrachten und auch so dagegen auftreten.

Wir haben ja über die Inflation gesprochen, die die eine Wirkung oder Folge dieser Situation ist, und sie bricht wirklich Monat für Monat beinahe in ganz Europa die Rekorde. Wie lange kann man mit diesem Inflationsniveau Schritt halten, in erster Linie die Familien, und wie kann die Regierung dagegen kämpfen?

Die erste Sache ist, dass wir uns verdeutlichen sollten, dass dies eine Sanktionsinflation ist, und wenn wir im Geschäft einen höheren Preis bezahlen, ganz gleich ob für die Energie oder die Lebensmittel, dann bezahlen wir einen Sanktionsaufpreis. Wenn also die Europäische Union einsehen würde, dass man an der Sanktionspolitik etwas verändern muss und diese, sagen wir, einstellen, aussetzen, umformen würde, dann würde mit großer Geschwindigkeit – meiner Ansicht nach innerhalb weniger Tage – der Preis bestimmter Produkte, die Energie hierhergezählt, mindestens auf die Hälfte zurückgehen. Es ist wichtig, dass wir verstehen, dass diese hohe Inflation nicht durch die Gesetzmäßigkeiten des Marktes verursacht wird, ihr Grund liegt nicht in der Wirtschaft; diese Inflation hat man von außen in die Wirtschaft hineingetragen, seitens der Politik. Wenn die Brüsseler Bürokraten klügere Politiker wären, wenn die Brüsseler Bürokraten umsichtiger vorgegangen wären, dann wäre die Inflation heute nicht so hoch und der Preis der Energie wäre nicht so hoch. Es gibt verschiedene Berechnungen, doch es gilt als internationaler Konsens, dass die Energiepreise etwa zu 40-50 Prozent direkt für das gegenwärtige allgemeine Preisniveau verantwortlich sind und in etwa zu 30 Prozent auf indirekte Weise. Auch hieraus ist ersichtlich, dass man dort eine Lösung finden müsste. Jetzt ist es aber am wichtigsten, dass man dies nicht ohne die Hand in den Schoß zu tun toleriert. Ich habe so etwas schon gesehen, wenn ich meine eigenen fachlichen Erfahrungen in Erinnerung rufen darf, also als ich das erste Mal Ministerpräsident war, 1998, auch damals lag die Inflation über 10 Prozent, irgendwo in der Zone um 15 Prozent, und da haben wir sie mit der harten Arbeit von einem, von anderthalb Jahren doch halbieren können. Und noch 2010 war es auch so, dass die Inflation irgendwie um 5-6 Prozent lag, und diese haben wir in die Nähe von 0 zurückgedrängt. Die derzeitige Regierung besitzt also Erfahrungen darin, wie man gegen die Inflation kämpfen muss, und am wichtigsten ist, dass man es nicht tolerieren, nicht zusehen, nicht sich damit abfinden darf, heute muss man gegen die Inflation kämpfen, man muss handeln. Die Regierung hat sich auch mit dieser Frage beschäftigt, sie beschäftigt sich auch jetzt regelmäßig mit ihr. Ich habe dies jetzt wieder auf die Tagesordnung gesetzt und ich habe den Notenbankpräsidenten höflichst darum gebeten und den Finanzminister angewiesen, dass sie bis zum Ende des kommenden Jahres diese Inflation auf jeden Fall halbieren sollen und sie auf die Weise herunterdrücken sollen, dass sie einstellig wird, selbst dann, wenn die internationale Umgebung uns im Übrigen in die entgegengesetzte Richtung zieht. Das ist eine sehr schwierige fachliche Frage, ob man, wenn Ungarn sich in einem hohen Inflationsumfeld befindet, in Ungarn die Preise herunterdrücken kann. Dafür gibt es Schranken und Schwierigkeiten, doch man darf nicht aufgeben, dafür muss man kämpfen, man muss gegen die hohen Preise kämpfen, denn dies quält die Menschen und die Familien, ruiniert die Firmen, bringt Arbeitslosigkeit mit sich und die Familien müssen ihre Reserven aufbrauchen, die sie in den vergangenen einigen Jahren mit harter Arbeit erwirtschaftet haben. Deshalb ist in Wirklichkeit der Kampf gegen die Inflation eine Maßnahmenreihe für den Schutz der Familien. Man muss gegen die Spekulanten auftreten, hinter der Inflation stecken immer Spekulanten. Man muss alles für die Umformung der Sanktionspolitik unternehmen, man muss die Verhängung von Sanktionen, die eine weitere Inflation verursachen, unbedingt verhindern. Wir haben also Möglichkeiten.

Auch die Nationale Konsultation hat begonnen, ab heute werden die Fragebogen versandt. Mehrere Themenkreise sind schon öffentlich geworden: Es wird eine Frage zu den über den Tourismus verhängten Sanktionen geben, über die Atomenergie und über die Gaslieferungen. Was erwartet die Regierung von der Konsultation?

Wir stecken inmitten einer internationalen Schlacht. Europa spaltet sich immer mehr in zwei Lager. In das eine, das daran glaubt, dass die Sanktionen in unveränderter Form und entsprechend der heutigen Logik fortgeführt werden müssen, und das wird ein Ergebnis haben, und da ist das andere Lager, zu dem auch wir gehören, das dafür argumentiert, dass die Sanktionspolitik unbedingt geändert werden muss, denn sonst krepieren wir daran, wir gehen daran zugrunde. Und ich bringe das auch regelmäßig auf der Sitzung der Ministerpräsidenten zur Sprache, wenn ich frage: „Sagen Sie uns bitte, liebe Frau Kommissionspräsidentin, wie lange werden wir das machen? Und hat das jemand ausgerechnet, wie lange dies die Familien aushalten werden? Und wenn die Antwort darauf, wie lange wir das machen werden, in Amerika zu suchen ist, haben wir dann schon mit unseren amerikanischen Freunden gesprochen, haben die großen Jungs, die führenden Politiker der großen europäischen Staaten und die leitenden Personen der Kommission schon mit den Amerikanern darüber gesprochen, wie lange wir das machen werden, wo das Ende dessen ist, was man aushalten muss, wie muss man sich zeitlich einstellen, womit können die Familien, die Firmen usw. rechnen? Diese Fragen müssen jene beantworten, die die Sanktionen verhängen. Wenn sie keine Antwort geben können, können sie nicht von uns erwarten, dass wir diese Sanktionen auch nur stillschweigend zur Kenntnis nehmen, dann müssen wir immer um die Befreiung von ihnen kämpfen. es ist eine sehr wichtige Sache, dass wir auch bisher uns von der Sanktionspolitik fernhalten konnten, da wir Befreiungen erkämpft haben, weshalb uns die Sanktionen über mittelbare Mechanismen quälen. Wenn wir uns nicht von den Sanktionen hätten befreien können, dann läge die Inflation noch höher als sie heute ist und auch die ungarischen Energiepreise wären höher, hinzu kommt noch, dass wir auch gar nicht ausreichend Energie hätten. Ungarn ist doch heute an dem Punkt angelangt, dass 48,5 Prozent des Jahresverbrauchs von Gas sich bereits in den Speichern befindet. wenn also aus irgendeinem Grund jetzt kein Gas mehr käme, könnte Ungarn auch dann etwa 6 Monate ungestört weiter funktionieren. Das ist eine fantastische Leistung, sie ist grundlegend ein Lob des Herrn Außenministers und platziert uns hinsichtlich der Energiesicherheit unter die ersten drei in der europäischen Rangfolge.

Doch im Zusammenhang mit der Nationalen Konsultation haben auch Sie erwähnt, dass dies irgendwo der Kampf der großen Jungs sei. Wie kann dies die Meinung der Menschen beeinflussen?

Ein entscheidendes Argument pflegt es aber zu geben. Man muss es natürlich häufig wiederholen, damit es funktioniert, dass die Sanktionen nicht auf demokratische Weise eingeführt worden sind. Darüber hat man niemanden gefragt. Über diese Sanktionen haben die Brüsseler Bürokraten und die europäische Elite entschieden, aber nirgendwo in Europa hat man jemanden von den Menschen auch nur in einem einzigen Land danach gefragt, was sie denn darüber denken. Und vorerst herrscht noch Demokratie in Europa und es zählt, was die Menschen denken. Ungarn schreitet darin ja voran, wir pflegen die ungarischen Menschen in den schwierigsten europäischen Fragen regelmäßig zu fragen, ja wir beziehen sie sogar in die Entscheidungen mit ein. Das haben wir bei der Migration getan, als eine große Schlacht in Brüssel geschlagen werden musste und die demokratische Ermächtigung durch die Ungarn nötig war, das haben wir bei COVID getan und das machen wir auch jetzt. In Ungarn ist es also Sitte, dass wir das politische Instrument finden, um eine mehrheitliche oder eine völlige nationale Eintracht herzustellen, mit der die Regierung dann in den Brüsseler Schlachten viel besser haushalten kann, als wenn sie diese nicht in der Hand halten bzw. hinter sich haben würde. Mir hilft das sehr viel: Einerseits kann ich mir sicher sein, dass die Mehrheit das teilt, was die Regierung denkt, und andererseits habe ich ein Instrument in der Hand, mit dem ich auch auf dem internationalen Parkett deutlich machen kann, dass es eine Grenze gibt, die man nicht überschreiten kann, da die ungarischen Menschen dies nicht akzeptieren.

Sie haben gerade eben die Migration erwähnt und gestern teilte die Küsten- und Grenzschutzagentur der EU, die Frontex mit, dass jetzt in dieser Hinsicht die Balkanroute am aktivsten ist. In den ersten neun Monaten des Jahres hat man hier einen Anstieg um 170 Prozent gemessen. Sie haben vergangene Woche den serbischen Präsidenten und den österreichischen Bundeskanzler getroffen, und sie haben zur Sprache gebracht, dass man die Migration an der serbisch-nordmazedonischen Grenze aufhalten müsste. Wie kann man das umsetzen?

Zunächst einmal müssen wir einsehen, dass den Grenzschutz die Frontex genannte, gemeinsame europäische Grenzschutzinstitution nicht lösen kann. Ja, wenn man sich es sogar genauer ansieht, dann ist die Frontes – wobei ich natürlich ihre Arbeit anerkenne – kein Grenzschutzorgan, sondern eine Reiseagentur. Sie achten also darauf, dass das Auftreten gegenüber den und der Umgang mit den an der Grenze ankommenden Migranten menschlich ist. Sie lassen sie ja geradezu herein! Wir brauchen nicht das. Wir brauchen, dass wir mit tatsächlicher militärischer Kraft, physischer Kraft unsere Grenzen gegen die illegalen Grenzübertretungen verteidigen können, denn das illegale Übertreten der Grenze ist eine Straftat. Und das einseitige Übertreten der Grenze, ohne die Zustimmung des betroffenen Staates ist keine unterstützenswerte Handlung, sondern etwas, das die Grenzen des Gesetzes überschreitet. Das heißt dass das sanktioniert werden muss, denn wenn man über unsere Grenzen hinweg frei hinaus- und hineinspazieren kann, ohne dass wir darüber Bescheid wüssten, was geschieht, wer wohin geht, was er will, dann würde dies ein äußerst großes Sicherheitsrisiko für uns darstellen. Deshalb gibt es an der Südgrenze Ungarns den Zaun und deshalb sind dort unsere Grenzjäger, für deren Arbeit ich mich auch an dieser Stelle mit viel Respekt, vielleicht auch in unser aller Namen, bedanken kann. Also im Fall Ungarns gab es beinahe 200 tausend Versuche, die Grenze illegal zu überqueren, die wir verhindert haben. Das sind 200 tausend Straftaten! Und wir haben in diesem Jahr bisher zweitausend Menschenschlepper – zweitausend Menschenschlepper! – verhaftet, die wir auch einem Strafverfahren unterzogen haben. Dies zeigt sehr gut, dass die Zahlen der Frontex, des europäischen Grenzschutzorgans genau sind: Auf der Balkanroute ist der Druck gewaltig. Die Zahlen erinnern beinahe schon an die große Migrationsinvasionswelle von 2015. Jetzt müssen wir den Zaun erhöhen, die Zahl der die Grenze schützenden Soldaten, unserer Polizisten erhöhen, doch die Lösung wäre ja, wenn die Migranten sich nicht an der serbisch-ungarischen Grenze aufstauen würden, wo sie an unseren Zaun stoßen, sondern wenn wir die Südgrenze Serbiens verteidigen könnten und sich der ganze Konflikt und die schwierige Lage eher an der mazedonisch-serbischen, der südlichen Grenze ergeben würde. Das ist das Interesse von allen. Auch das der Österreicher, denn wer es über jenen Zaun schafft, der nimmt früher oder später Kurs auf Österreich. Es ist auch in unserem Interesse, denn der Grenzschutz erfordert gewaltig viele Energien, Aufmerksamkeit und Geld, und es ist auch das Interesse der Serben, denn derzeit befinden sich jene illegalen Migranten auf dem Gebiet Serbiens, die nicht nach Ungarn hineingelangen können. Also gerade deshalb haben sich diese drei Spitzenpolitiker doch getroffen, weil unsere Interessen sich überschneiden und wir jene Verteidigungslinie, die heute an der serbisch-ungarischen Grenze ist, wir weiter nach Süden verschieben möchten, zur mazedonisch-serbischen Grenze. Man muss verhandeln, bald fahre ich nach Belgrad, dort wird die nächste Verhandlungsrunde sein.

Können wir mit irgendeiner Lösung oder Hilfe seitens der EU rechnen? Denn das erkennen alle Experten an, dass der Migrationsdruck im kommenden Zeitraum mit Sicherheit nicht abnehmen wird, und das sind noch die optimistischsten Schätzungen. Und aus Brüssel kamen erneut Nachrichten, dass irgendein Solidaritätsmechanismus auf die Tagesordnung kommen könnte.

Der Solidaritätsmechanismus, was sich mädchenhaft weich anhört, man bekommt schon geradezu Lust dazu, bedeutet in Wirklichkeit, dass wir untereinander die illegalen Grenzübertreter verteilen. Während also Ungarn Milliarden, hunderte von Milliarden ausgibt, um seine Südgrenze zu schützen, und andere Länder tun das nicht, und dort fasst man einen Migranten bei den Ohren und sie sagen, auch wir bekommen einen. Also das ist inakzeptabel! Selbstverständlich müssen wir diese Verteilungsmechanismen, die sie auf so liebe Weise „Solidarität“ nennen, auf jeden Fall verhindern. Und bisher, seit 2015 bis heute, was doch mehr als sieben Jahre sind, ist es mir auch immer gelungen, sie zu verhindern, obwohl ich zeitweilig im Laufe der Debatten und in der internationalen Presse Beurteilungen bekommen habe wie Beelzebub. Doch das interessiert mich nicht, denn es ist egal, was sie schreiben, Ungarns Grenzen müssen auch dann verteidigt werden. Hier wird es kein Flüchtlingslager geben, hierher werden Migranten nicht kommen, uns wird man nicht von anderswo vorschreiben, mit wem wir zusammenleben sollen. Wer in Ungarn lebt, entscheiden wir, mit wem wir, Ungarn zusammenleben wollen und mit wem nicht, das kann ausschließlich nur die Entscheidung der ungarischen Menschen und des durch sie gewählten Parlaments und der Regierung sein.

Über die Brüsseler Sanktionen, die Nationale Konsultation und die illegale Migration befragte ich in der vergangenen halben Stunde Ministerpräsident Viktor Orbán.