Viktor Orbáns Interview in der Sendung „Guten Morgen Ungarn” von Radio Kossuth
28. Oktober 2022

Zsolt Törőcsik: 92 Prozent der Ungarn würden den russisch-ukrainischen Krieg sofort beenden – das war die wichtigste Folgerung der dieser Tage durch das Institut Századvég angefertigten Umfrage, aus der Hervorgeht, dass immer mehr Menschen in Ungarn eine negative Meinung über jene Politiker formulieren, die den Krieg befürworten. Ja, auch das Wall Street Journal hat unter Berufung auf ein französisches Forschungsinstitut geschrieben, dass auch in Frankreich und Deutschland der Anteil der Befürworter der gegen Moskau gerichteten Sanktionen in bedeutendem Maß abgenommen hat. Unser Gast im Studio ist Ministerpräsident Viktor Orbán. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen!

Guten Morgen!

Vor einer Woche waren Sie in Brüssel. War jene Stimmung, die – anscheinend – europaweit in der Gesellschaft zu verspüren ist, auch auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs zu verspüren gewesen?

Sie war vielleicht in der Form zu spüren, dass alle nervöser als sonst waren. Dass also in jedem Land die Spannung ansteigt, das konnte man auch im Brüsseler Verhandlungsraum spüren, also dass alle in Problemen stecken und irgendeine Lösung gefunden werden müsste. Und der nüchterne Verstand setzt sich früher oder später durch, denn alle Menschen denken, dass wenn es einen Krieg gibt, den man nicht hätte beginnen dürfen und dessen Folgen eine immense Zahl an Menschenleben aufopfern bzw. auch noch unser Leben durch die Wirtschaft erschweren, also in einer solchen Situation diktiert der nüchterne Verstand, dass es besser wäre, wenn wir nicht dies hätten. Und dem Krieg kann man auf die Weise ein Ende setzen, wenn die sich gegenüberstehenden Parteien eine Übereinkunft treffen und ein Waffenstillstand entsteht, Friedensverhandlungen beginnen. Deshalb bedeutet der Standpunkt, der sagt, der Krieg müsse zu Ende geführt werden, er muss mit dem Sieg irgendeiner Seite beendet werden und der Krieg kann auf diese Weise zu Ende gehen, es gibt solche Stimmen, doch ein jeder weiß, dies bedeutet, dass es noch über lange-lange Jahre hindurch Krieg in der Nachbarschaft Europas geben würde. Deshalb rechne ich damit, dass – so wie in den vergangenen Monaten – sich die öffentliche Meinung, diese Stimme für den Waffenstillstand und die Friedensverhandlungen in allen europäischen Ländern verstärken wird, und in Ungarn – hier leben nüchterne Menschen – war dies von Vornherein der Ausgangspunkt.

Trotzdem setzen Washington und auch Brüssel mit Volldampf die Finanzierung der Ukraine fort. Gerade vor den Nachrichten unterhielten wir uns darüber, dass es einen 3.600 Milliarden Forint entsprechenden Kreditrahmen gibt, den die EU der Ukraine zur Verfügung stellt, und im Großen und Ganzen wird der Finanzierungsbedarf der ukrainischen Regierung im kommenden Zeitraum monatlich so viel betragen.

Das Verhältnis von Brüssel und dem Geld ist chaotisch, schwer zu durchschauen. Wenn sie eine Zahl nennen, dann sollte niemand Gift darauf nehmen, dass dies auch wirklich genau so viel Geld bedeutet. Häufig pflegt man in Brüssel auf die Weise vorzugehen, indem sie dahingehend formulieren, sie würden etwas Geld geben, das zehnmal so viele Dinge in Bewegung setzen wird, und dann stellt es sich heraus, dass dies bedeutet, es war nicht einmal ein Zehntel des Geldes, über das sie zu Anfang gesprochen hatten. Ich wäre also mit den Zahlen vorsichtig. Doch der Ausgangspunkt selbst, den Sie aufgeworfen haben, existiert, es zeichnen sich nämlich drei große Ausgaben ab, wenn es um die Ukraine geht, und das muss jemand finanzieren – und dieser jemand kann niemand anderes sein als der Westen, der diesen Krieg unterstützt. Die eine sind die Kosten des Krieges: Waffen, Instrumente, die mit dem Krieg einhergehenden wirtschaftlichen Ausgaben, das ist der eine große Posten. Die Europäische Union verfügt über einen Finanzrahmen, aus dem sie Ausgaben dieses Typs finanziert. Dies kommt im normalen Haushalt der EU vor, dieses erfordert keine weiteren Einzahlungen seitens der Mitgliedsstaaten. Das ist eine bedeutende Summe, wir sprechen über Geld in der Höhe von etwa 9 Milliarden Euro. Dies liegt über dem, was im Übrigen die einzelnen Mitgliedsstaaten einzeln für sich in Form militärischer Mittel noch geben. Der zweite große Posten, über den wir jetzt noch nichts wissen, doch er zeichnet sich bereits am Horizont ab, das ist die Frage des Wiederaufbaus, wenn einmal der Krieg zu Ende sein wird, wer und wie dann das Gebiet der Ukraine wieder aufbauen wird und welche Finanzmittel der Westen hierzu zur Verfügung stellen kann. Das sind unüberblickbar große Zahlen, über diese lohnt es sich jetzt auch nicht einmal zu spekulieren, doch wird dies für die europäischen Länder dann eine ernsthafte Last bedeuten, wenn sie als Spender, in der Form von Spenden am Wiederaufbau der Ukraine teilnehmen möchten. Und die dritte, die jetzt am stärksten peinigende Frage ist die zur Aufrechterhaltung des Funktionierens der Ukraine notwendige Summe. Das ist nicht der Krieg, das ist nicht der Wiederaufbau, sondern damit die Ukraine ganz einfach funktionieren kann. Die Ukraine ist nämlich ein funktionsunfähiger Staat. Sie kann und konnte also ihre Wirtschaft auch schon vor dem Krieg nicht auf die Weise funktionstüchtig halten, und während des Krieges ist das Land noch viel weniger dazu in der Lage, so viel Geld zu erwirtschaften, wie viel im Übrigen das Leben des ukrainischen Volkes kostet: Renten, öffentliche Sicherheit, Schulwesen, Gesundheitswesen und so weiter. Doch ist dies eine gewaltige Summe, dies wären monatlich etwa 5 Milliarden Euro, die der ukrainische Staat benötigen würde, um nicht zusammenzubrechen. Und die Frage ist, wer dieses Geld geben wird. Hierüber laufen Abstimmungen untereinander, wie man die Lasten zwischen Europa und Amerika verteilen sollte, und falls Europa etwas davon übernimmt, wie wir dann die Lasten dessen unter den Mitgliedsstaaten verteilen sollen, bzw. ob überhaupt jeder an so einer Finanzhilfeleistung teilnehmen möchte oder nicht. In dieser Frage muss sich dann auch Ungarn entscheiden, ob wir daran teilnehmen möchten, ob wir Geld haben, das wir den Ukrainern geben, und wenn wir es haben, dann in welcher Form wir es geben wollen. Gemeinsam mit den anderen, gesondert, als Spende, als Kredit? Das sind zahlreiche ungeklärte Fragen. Ich denke, im Laufe der Verhandlungen der Europäischen Union in den kommenden zwei-drei Monaten werden wir dann klarsehen. Ungarn steht vor schwierigen Entscheidungen.

Und in den kommenden zwei-drei Monaten wird sich dann auch herausstellen, ob es genügend Gas in Europa gibt, denn viele Politiker bereisen verzweifelt den Nahen Osten von Land zu Land, um möglichst viel Gas zu bekommen. Wie beurteilen Sie die europäische Versorgungssicherheit in dieser Hinsicht, denn es ist zu sehen, dass die Sanktionen ihre Wirkung kurzfristig, ihre Wirkung sofort besitzen, doch scheint es so zu sein, dass die diese mildernden Maßnahmen auch hinsichtlich der Versorgungssicherheit langfristigere Projekte wären.

Wenn wir in Europa über Energie reden, dann reden wir über zwei Fragen: Gibt es sie, und wenn ja, wie viel kostet sie? Die Frage der Energieversorgung zeigt das Bild, dass insgesamt heute weniger Energie, besonders weniger Gas in das Gebiet der Europäischen Union kommt, als wir im Laufe eines Jahres zu verbrauchen pflegen. Das ist der Ausgangspunkt. Es gibt zwei Ideen zur Ergänzung der fehlenden Menge. Die eine lautet, wir sollten weniger verbrauchen, dann wird weniger fehlen. Die andere ist die, anstatt der ausfallenden, durch die Sanktionen betroffenen russischen Energie sollten wir Energie von woanders importieren, in erster Linie Gas. Doch dem sind physische Grenzen gesetzt, denn wenn wir Gas von woanders importieren, sagen wir aus Amerika – dies scheint jetzt die Lösung zu sein, die am ehesten auf der Hand liegt –, dann wird das Gas zuerst zusammengepresst, flüssig gemacht, in Schiffe verfrachtet, hierhergebracht, hier wieder in Gasform zurückgewandelt und über Rohre an den Bestimmungsort gebracht. Präsident Macron sagte an einem Tag, dass das keine Freundschaft ist, wenn die Amerikaner uns jene Art von Gas viermal teurer geben, als sie es selbst zu Hause kaufen können. Es ist also deutlich zu sehen, dass jeder die Zwangslage, in der Europa steckt, ausnutzt, auszunutzen versucht. Das ist auf dem Markt, in der Marktwirtschaft so, dass wenn es von etwas nur wenig gibt, dann steigt dessen Preis. Es gibt also eine einzige Lösung gegenüber den hohen Energiepreisen in Europa, wenn wir möglichst viel Energie, möglichst viel Gas nach Europa hereintransportieren, dann wird das die Preise senken. Jetzt gibt es eine vorübergehende Ruhe, dessen Grund darin besteht, dass wir eine große Menge des durch Europa verbrauchten Gases im Sommer für den Winter einspeichern, wenn dann mehr davon verbraucht werden muss, wir füllen die Speicher; jetzt hat sie ein jeder aufgefüllt, deshalb gibt es jetzt für einige Monate ausreichend Gas in Europa. Wenn wir dann im Laufe des Winters die zuvor eingespeicherten Mengen verbrauchen, wird es erneut weniger geben, dann werden wir damit rechnen müssen, dass die Preise erneut steigen werden. Was Ungarn angeht, so mag sein, dass es in Europa weniger Gas gibt und geben wird, als nötig wäre, doch gilt das nicht für Ungarn. Ungarn hat derartige Verträge abgeschlossen, langfristige Verträge, die garantieren, dass die Gasversorgung Ungarns in Ordnung sein wird. Wir haben die Verträge mit den Russen abgeschlossen und aus Russland kommt Gas über Leitungen. Die Nord-Stream-Pipeline wurde durch terroristische Aktionen kaputtgemacht, doch die aus südlicher Richtung, über die Türkei ankommende Leitung funktioniert noch, und ich hoffe, sie wird auch noch funktionieren. Ungarn wird seine damit verbundenen Interessen auch verteidigen, wir lassen es nicht zu, dass irgendjemand das Rohr auf die Weise kaputtmacht, wie das im Norden geschehen ist. Und wenn wir dazu fähig sein werden, und wir sind mit den Serben darüber übereingekommen, dass wir dazu in der Lage sein werden, wird kontinuierlich Gas nach Ungarn kommen und es wird keinen Versorgungsmangel geben. Im Winter muss man heizen und die Industrie muss funktionieren. Die Bedingungen dafür sind heute gegeben. Der Preis ist eine andere Frage, denn auch der Preis des aus Russland kommenden Gases ist mit den europäischen Börsenpreisen verbunden, wenn also die Preise in Europa hoch sind, dann zieht dies automatisch auch den Preis des in Ungarn verbrauchten Gases mit sich.

Sprechen wir doch darüber etwas ausführlicher, denn in ganz Europa ist zu sehen, dass dies der Inflation seinen Stempel aufdrückt. Also überall ist eine ernsthafte Verteuerung zu verspüren und es gibt auch verschiedene Ideen auf der Ebene der Europäischen Union, dieses niederzudrücken. Eine solche ist der gemeinsame Einkauf von Gas, aber da ist auch die Idee des Gasdeckels, des Gaspreisdeckels. Sie haben ja nach dem EU-Gipfel in der letzten Woche gesagt, es sei gelungen, eine Schlacht zu gewinnen, und tatsächlich nahm man auch die Idee des Gaspreisdeckels oder des gemeinsamen Einkaufs nicht auf die Tagesordnung, und auch Péter Szijjártó hat bestätigt, dass Ungarn an keinerlei Gaseinkauf teilnehmen wird. Was ist der Grund dafür? Denn Brüssel argumentiert ja damit, dass hierdurch der Preis gemindert werden könne.

Da Ungarn seine eigene Situation dahingehend beurteilt, dass wir beim Gaseinkauf allein geschickter sind, als wenn wir auf andere warten würden, deshalb gibt es für uns keinen Grund, eine Fähigkeit, über die wir verfügen, im Tausch für eine erhoffte, zukünftige Fähigkeit aufzugeben, von deren Vorhandensein wir überhaupt nicht überzeugt sind. Ungarn kann sich also heute mit Gas versorgen, die Westler aber nicht. Warum sollten wir uns mit ihnen zusammentun müssen, um gemeinsam einzukaufen? Dadurch erginge es uns nur schlechter. Wir unterstützen es also, wenn jemand gemeinsam mit anderen einkaufen möchte, warum sollte er das auch nicht tun können, doch das sollte freiwillig und nicht obligatorisch sein. Und nachdem es gelungen war, veränderten sie den Beschlussentwurf, in dem es um den obligatorischen Einkauf ging, man veränderte ihn in freiwillig, so entgeht Ungarn der Folgen dessen, das ist auf diese Weise für uns akzeptabel. Es ist ja eine sehr wichtige Sache, dass die EU auch Entscheidungen getroffen hat, die zum Gasmangel und zum hohen Gaspreis beitragen. Das sind die Sanktionen. Heute ist also der Preis der Energie und des Gases in Europa aus dem Grund hoch, weil wir Sanktionen eingeführt haben, das hat die Preise hochgetrieben, deshalb zahlen wir in ganz Europa einen Sanktionsaufpreis für die Energie. Zwar versucht sich Ungarn der Folgen der falschen Entscheidungen zu entziehen, dies gelingt im Allgemeinen auch, aber wir sind letztlich ja doch auf einem Markt mit allen europäischen Ländern, wenn sich also bei ihnen die Lage verschlechtert, dann werden auch wir darunter auf jeden Fall zu einem bestimmten Grad leiden. Deshalb sind wir gegen die Sanktionen. Bei den Sanktionen hieß es ja: „Wir haben einen Plan, wie man den Krieg schnell beenden und wie man Russland für die Initiierung des Krieges bestrafen kann. Wir führen Maßnahmen ein, diese Energiesanktionen werden den Russen mehr wehtun als uns, und sie werden sie zur Beendigung des Krieges zwingen.“ Wie man das bei uns zu Hause sagen würde: „Wir haben uns einen Plan ausgedacht, dass wir den Russen eine Grube graben, da werden sie schön hineinfallen.“ Doch dann sind wir in die Grube hineingefallen, und jetzt müssen wir uns entscheiden, was wir machen sollen. Die EU sagt, wir sollen weitergraben. Das scheint nicht vernünftig zu sein. Wir, Ungarn, sagen: „Wenn wir schon in die durch uns selbst gegrabene Grube hineingefallen sind, dann sollten wir versuchen, aus ihr herauszuklettern.“ Deshalb stehen diese beiden Standpunkte auf jedem EU-Gipfel einander gegenüber.

Verändert sich vielleicht hierin die allgemeine Stimmung in Brüssel oder unter den Staats- und Regierungschefs der EU? – Denn sie sind es ja letztlich, die zu Hause ihren Wählern Rechenschaft abgeben müssen.

Sehr viele Interessen erscheinen in diesen Debatten. Wir sollten norwegisches Gas holen, wir sollten amerikanisches Gas holen, bauen wir neue, gewaltige Häfen, kaufen wir gewaltige, große Tanker, hier ist also auch unermesslich viel Geld im Hintergrund in Bewegung, und immer treten die Spekulanten auf. Es ist also sehr schwer genau zu verstehen, wer was aus welchem Grund sagt, man muss die eigentümliche Lage eines jeweiligen Landes sehr genau kennen. Doch ist sicher, dass in jedem Land hinter den Debatten jene Finanzspekulanten zu finden sind, die meinen, an dieser unübersichtlichen Situation, in dieser unübersichtlichen Situation können sie gewinnen, Extraprofit erlangen. Das alles trägt dazu bei, dass die Stimmung eher neblig, schlecht ist.

Sprechen wir noch über eine Sache, die ebenfalls unter den EU-Plänen anzutreffen ist. Das ist der Solidaritätsmechanismus im Zusammenhang mit dem Gas. Das ist ja erst noch ein Plan, und dies ist erst eher im Sommer verstärkt vorgekommen, doch jetzt hat Péter Szijjártó erneut darüber gesprochen. Die Solidarität können wir aber doch bereits aus den Diskussionen um die illegale Migration kennen. Hier geht es ja darum, dass gegebenenfalls das Gas verteilt werden würde, über das der eine Mitgliedsstaat verfügt, an jene, die eventuell keines haben, in einer Bedrängnissituation. Wie realistisch ist dieser Plan und wie steht Ungarn dazu?

Er kommt jedes Mal zur Sprache und bisher ist es uns jedes Mal gelungen zu erreichen, dass auch dies freiwillig sein soll. Wir sind also nicht dagegen, dass jeder der europäischen Mitgliedsstaaten, der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union mit irgendeinem anderen Staat Verträge darüber abschließt, wie sie einander aushelfen. Auch wir haben eine Übereinkunft darüber, z.B. mit den Serben. Doch sollte das nicht obligatorisch sein! Wenn es obligatorisch wäre, dann muss man sich das so vorstellen, dass – sagen wir – Ungarn es gelungen ist, eine Lösung für seine ganzjährige Gasversorgung zu finden, es hat seine Speicher gefüllt, hat seine Verträge abgeschlossen, ein anderer Staat jedoch war dazu nicht in der Lage, sagen wir, weil er die Sanktionen gegen Russland unterstützt hat. Diesem Staat geht das Gas aus und er sagt: „Du, der Du das geschickter gemacht hattest, gib mir jetzt x Prozent der bei Dir eingespeicherten Menge.“ Und ganz gleich ob ich das will oder nicht, ganz gleich ob die Ungarn das wollen oder nicht, das muss man jenem Staat geben. Das wäre die obligatorische Solidarität. Nun, davon wollen wir nichts wissen, das ist die Wahrheit. Gemeinsame Sachen sind immer problematisch.

Hinzu kommt noch, dass sich das russische Gas aus Ungarn von dem aus Russland erhaltenen russischen Gas unterscheidet?

Ja, das kommt noch hinzu…

Hier geht es auch darum, praktisch.

Ja. Ich will also sagen, ich habe in den vergangenen dreißig und einigen Jahren, seit ich die Arena der internationalen Politik betreten habe, gelernt, immer misstrauisch zu sein, wenn immer kompliziertere Vorschläge auf den Tisch gelegt werden, und ich sollte versuchen, auf die einfachste Weise bis zu dem Ausgangspunkt zurückzuverfolgen: Wer dann genau was will? Und es kommen immer kompliziertere Vorschläge hervor und das ist für mich immer verdächtig. Man muss sich also in solchen Situationen immer mit unseren Analystengruppen hinsetzen und alles durchsehen, und am Ende stellt sich immer heraus, dass dort irgendwo immer ein finanzielles Interesse irgendeines großen Mitgliedstaates hinter dem Vorschlag steckt, den man uns gerade mit Hilfe eines derart süßlichen Begriffs wie die Solidarität aufzwingen will. Was in der EU obligatorisch ist, ist im Allgemeinen für die Ungarn schlecht. Deshalb ist der Ausgangspunkt, dass die Dinge, selbst wenn sie gut aussehen, lieber auf freiwilliger Basis stehen sollten als denn obligatorisch sein.

Sprechen wir noch ein paar Worte darüber, wenn wir hier schon über die öffentliche Stimmung gesprochen haben, darüber inwieweit in Ungarn die Nationale Konsultation auch ein guter Gradmesser dessen sein wird. Kann man eventuell sich der Aufhebung der Sanktionen dadurch annähern, wenn sich Punkte der Übereinstimmung herausbilden?

Eine Veränderung wird in ganz Europa die Einsicht bringen, dass die Sanktionen zu höheren Energiepreisen führen. Das ist ein Sanktionsaufpreis. Und die hohen Energiepreise sind für die Inflation verantwortlich. Also das, worunter heute auch in Ungarn ein jeder leidet, nennen wir es hohe Inflation, doch in verschiedenem Maß quält das alle europäischen Länder, dahinter stecken zu einem Großteil die Sanktionen. Wenn der Preis der Energie steigt – und die Sanktionen stellen einen die Preise hochtreibenden Faktor dar –, sagen wir auf das Zwei- bis Dreifache, dann bringt das auch eine zwei- bis dreifache Inflation mit sich. Es gibt also einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den hohen Energiepreisen und dem Wert der in den Geschäften bezahlten Rechnungen. Z.B. steckt auch hinter der Lebensmittelinflation, zwar nicht ausschließlich, doch zum größten Teil der Energiepreis. Denn z.B. müssen die Lebensmittel transportiert werden, die Waren von einem Ort zum anderen gebracht werden, das wird teurer. Oder da ist der Kunstdünger, der, ja eine Frage des Gases ist und der Preis des Kunstdüngers in Europa ist im vergangenen Zeitraum auf das Zwei- bis Dreifache oder noch höher gestiegen. Das erscheint in den Lebensmittelpreisen. Wenn es also keine Sanktionen gäbe, sagen wir, morgen in der Früh würde eine Fee schlagartig diese aufheben, da würden wir sehen, dass auch die Preise, d.h. das Maß der Inflation, das Maß des Preisanstiegs sofort auf die Hälfte oder vielleicht in einem noch größeren Maß zurückgehen würde.

Tatsächlich verspüren auch die Familien die Inflation auf der eigenen Haut, wenn sie Dienstleistungen in Anspruch nehmen, wenn sie in ein Geschäft hineingehen, aber auch die Firmen spüren das ja durch die in den Himmel gestiegenen Energiepreise. Wie sehen Sie es, wer ist jetzt in größerer Gefahr, die Familien oder die Firmen?

Die Konsultation war auch aus dem Grund wichtig, damit ein jeder erkennt, dass jeder in Gefahr ist, nur auf unterschiedliche Weise. Im Geschäft sind wir in Gefahr, weil man hohe Preise bezahlen muss. Die Regierung beobachtet das nicht mit in den Schoß gelegten Händen, wir müssen alles im Interesse dessen unternehmen, um die Inflation zu senken. Ich habe das vielleicht auch schon früher gesagt, dass wir bis Ende 2023 unter allen Umständen erreichen müssen, dass in Ungarn die Inflation einstellig sei. Das ist eine Inflationszielsetzung der Regierung und wir arbeiten dafür jede Woche, damit wir in diese Richtung schreiten. Und die Firmen sind auf die Weise in Gefahr, dass wegen der hohen Energiepreise ihre Wettbewerbsfähigkeit sich verschlechtert. Wenn sie nicht wettbewerbsfähig sind, können sie ihre Waren nicht verkaufen, können nicht so viele Menschen beschäftigen, wie früher und das führt zu Entlassungen. Wir müssen also den Firmen helfen, damit es in Ungarn keine Arbeitslosigkeit gibt. Also gibt es heute in allen Elementen der Wirtschaftspolitik etwas für die Regierung zu tun. Deshalb gibt es, sagen wir, den Benzinpreisstopp, deshalb gibt es die Verteidigung der Nebenkosten, deshalb gibt es bei bestimmten Produkten, Produkten der Lebensmittelindustrie einen Preisdeckel und deshalb werden wir in den kommenden Wochen kontinuierlich darüber entscheiden, ob wir die zentral preisregulierten Produkte bzw. deren Liste noch um weitere erweitern. Darüber gibt es immer eine gewaltige Diskussion, die Regierung beschäftigt sich damit, doch wird es weitere Produkte geben, deren Preis wir zentral, dessen Maximum wir auf die Weise bestimmen wollen, wie wir das heute im Fall von sechs grundlegenden Lebensmitteln machen. Und bei den Firmen können wir das machen, da wenn die Inflation hoch ist, dann sind die Zinsen hoch und die Firmen funktionieren grundlegend aus Krediten, und es gibt zwei Arten von Krediten: Die mit festem Zinssatz und jene mit sich veränderndem. Dort wo die Zinsen fixiert sind, berühren die gegenwärtigen schnellen Zinserhöhungen die Firmen nicht, aber dort, wo sie nicht festgebunden sind, da wächst der Zins der bereits aufgenommenen Kredite plötzlich an und schickt die Firmen zu Boden, sie gehen zugrunde, man muss sie schließen, man muss die Menschen entlassen. Deshalb haben wir nach einer sehr schwierigen, elendigen Diskussion auf der Regierungssitzung neulich eine sehr schwere Entscheidung getroffen, durch welche Entscheidung wir die Klein- und mittleren Unternehmer vor dem sehr hohen Zinsniveau schützen. Und anstatt dass die Zinsen ihrer Kredite bis auf 20 Prozent ansteigen würden, ziehen wir jetzt eine Grenze, und diese stellen wir irgendwo auf dem Zinsniveau zwischen 7,7-8 Prozent fest. Das besitzt Kosten, denn irgendjemand muss diese Diskrepanz bezahlen. Wir haben entschieden, dass diese die Banken werden zahlen müssen, denn wir sehen, dass die hohen Zinsen den Banken Profit bringen. Auf einen Teil des Profits müssen sie jetzt verzichten und ihn in Form niedriger Zinsen den Unternehmern geben, damit diese nicht kaputtgehen. Es ist nicht gut, wenn man auf diese Weise in das komplizierte Textursystem der Wirtschaft eingreifen muss, doch gibt es Krisensituationen, in denen im Interesse der Vermeidung des großen Übels auch das getan werden muss. Auch jetzt hat die Regierung auf ihrer letzten Sitzung so entschieden, und wir haben rückwirkend bis zum Zinsniveau vom Juni die Zinsobergrenze gezogen. Dies beginnt ab dem 15. November zu wirken und wird mindestens für ein halbes Jahr gültig bleiben.

Dies betrifft ja nach Berechnungen im Großen und Ganzen 60 tausend Klein- und mittlere Unternehmen. Warum haben Sie gedacht, dass diese es seien, denen man jetzt zunächst helfen muss, oder sind sie die Ausgeliefertesten?

Es ist immer so, dass die Großen im Allgemeinen mehr finanzielle Reserven besitzen und sie sind auch gegenüber den Finanzinstituten in einer besseren Situation, sie kommen also leichter an Quellen. Die Banken wollen ihr Geld nicht aufs Spiel setzen, und die Klein- und mittleren Unternehmer stellen ein größeres Risiko dar als die riesigen Firmen, deshalb muss man eher auf sie achten. Andererseits sind die meisten Menschen in Ungarn nicht bei den großen Firmen angestellt, sondern den Klein- und mittleren Unternehmen. Wenn wir also erstrangig die Arbeitsplätze schützen wollen – und wir möchten das –, dann können wir dies durch die Hilfe für die Klein- und mittleren Unternehmen erreichen. Das bedeutet nicht, dass wir die großen Firmen nicht beachten, denn wir haben 150 Milliarden Forint im Rahmen eines Programms zur Rettung von Fabriken eröffnet. Dies bezieht sich auf die großen Fabriken, deren Investitionen wir unterstützen, durch die Investitionen zur Energieersparnis verwirklicht werden können, und so sind sie in der Lage, ihre Produktionskosten auch in einem Umfeld von hohen Energiepreisen zu senken.

Wenn Sie schon den Schutz der Arbeitsplätze erwähnen – gibt es, falls sie notwendig werden sollten, innerhalb der Regierung weitere Pläne, um sie zu schützen?

In jeder Schublade.

Vielen Dank! Über die Brüsseler Sanktionen und die Lage der heimischen Wirtschaft befragte ich in der vergangenen halben Stunde Ministerpräsident Viktor Orbán.