Sehr geehrte Gastgeber, Herr Ministerpräsidenten, Exzellenzen!
Ich bedanke mich für die Einladung. Ich bin heute nach Prag gekommen, um dem tschechischen Volk die Grüße der Ungarn zu überbringen. Die Nation von 1956 grüßt die Erben von 1968. Die Schicksalsfäden unserer Völker haben sich in den vergangenen tausend Jahren häufig miteinander verbunden. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs leben wir auch in einer Schicksalsgemeinschaft, denn nach 1945 haben die Tschechen, die Slowaken gemeinsam mit den Polen das Gleiche als Belohnung erhalten, was wir, Ungarn, als Strafe: die sowjetische Diktatur.
Meine Damen und Herren!
Ich erinnere mich daran, wie in den achtziger Jahren für uns, ungarische Jugendliche, der tschechische und der polnische antikommunistische Widerstand unsere Vorbilder waren. Charta ’77, Václav Havel waren für uns Wegweiser und Orientierungspunkte, mit deren Hilfe auch wir Ungarn mit dem Abbau des kommunistischen Systems begannen. Und ich erinnere mich natürlich an die phantastischen intellektuellen Erlebnisse, an die phantastischen tschechischen Filme: „Der Feuerwehrball“, „Liebe nach Fahrplan“, „Kurzgeschnitten“, „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Und die unübertreffliche tschechische, oder wie wir es damals sagten: tschechoslowakische Literatur; wenn wir sie lasen, hatten wir das Gefühl, bei all dem geht es auch um uns. Vielen Dank dafür!
Meine Damen und Herren!
Heute ist auch schon klar, dass ein ’68-er zu sein etwas grundlegend anderes im Westen und in Mitteleuropa bedeutet. Das ’68 des Westens würde die freie, auf den Nationalstaaten und der christlichen Kultur beruhende westeuropäische Welt liquidieren. Demgegenüber steht unser ’68, das gerade die Rückerlangung und die Verteidigung dessen möchte. Die Botschaft des mitteleuropäischen ’68 ist heute die gleiche wie damals, es sagt, wir wollen über unser eigenes Schicksal entscheiden, es sagt, wir wollen als freie Nation leben und nicht als die Provinz eines Reiches oder als Reichsuntertanen. Wie es uns Václav Klaus gelehrt hatte: Wenn es keinen Nationalstaat gibt, dann gibt es keine Demokratie. Das ist eine Sache, die wir, Tschechen, Polen und Slowaken bereits vor dreißig Jahren als Bauchgefühl verspürten und es auch heute verspüren. Wir sind mitteleuropäische Demokraten, deshalb müssen wir die nationalstaatliche Souveränität schützen, denn wenn wir auf sie verzichten, dann wird damit auch die Demokratie zu Ende sein. Winston Churchill hat vorausgesagt, dass zwar das sowjetische Reich 1945 Mitteleuropa geschluckt hatte, so wird es dieses aber nicht verdauen können. Das geschah auch: Als der Druck auch nur für einen Moment nachließ, begann Mitteleuropa mit einer eigenen Stimme und in seiner eigenen Sprache zu sprechen. Der Oktober 1956, der Prager Frühling von ’68 und dann die Solidarność zersetzten das sowjetische System von innen, und 1989 konnten wir schließlich auch die letzten Nägel in den Sarg des Kommunismus einschlagen. Und wir taten dies, indem wir dem Kommunismus nicht eine andere Ideologie gegenüberstellten, sondern einfach ein menschenwürdiges Leben forderten. Und an dieser Stelle rufe ich den wichtigen Gedanken in Erinnerung, den wir von Václav Havel gelernt haben. Er sagte einmal: Die Einführung eines humaneren Systems garantiert nicht automatisch das humanere Leben, sondern umgekehrt, allein das humanere Leben kann das Unterpfand für die Entstehung des humaneren Systems sein. Ich bin davon überzeugt, dass das, was er damals gesagt hat, auch für die heutige Welt gilt. Auch heute brauchen wir nicht irgendein neues ideologisches System, wenn wir unsere europäische Welt verbessern wollen – und dies hätte sie ziemlich nötig –, sondern wir benötigen einfache menschliche Dinge. Dass wir unser eigenes mitteleuropäisches Leben leben, unsere Familien respektieren und schützen, unsere Freiheit genießen, unsere Heimat lieben und stolz auf unsere Nation sein können dürfen. Wir, Mitteleuropäer, besitzen eine eigene Sprache: Die Sprache der Freiheit, der Unabhängigkeit und der gegenseitigen Solidarität. Diese Sprache verleiht uns heute in der großen Familie der europäischen Völker eine selbständige und feste Stimme, und der haben wir es zu verdanken, dass Mitteleuropa heute nicht nur ein geographischer Begriff, nicht nur ein Versprechen, sondern politische, wirtschaftliche und kulturelle Wirklichkeit ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Milan Kundera hat die im sowjetischen Joch lebenden mitteleuropäischen Nationen so beschrieben, dass diese für ihre Heimat und Europa selbst zu sterben bereit sind. Wir haben seit dreißig Jahren auch gezeigt, dass wir für unsere Heimat und Europa nicht nur sterben, sondern auch leben und arbeiten können. Jetzt haben wir nicht nur ein gemeinsames Schicksal, sondern auch gemeinsame Ziele. Die Zusammenarbeit der mitteleuropäischen Länder steht in den Herzen der mitteleuropäischen Menschen geschrieben, deshalb ist es meine Überzeugung, dass die vor uns stehenden Jahre die Erfolge Mitteleuropas, der V4 und darin jene Tschechiens mit sich bringen werden. Mit der nötigen Bescheidenheit, aber mit dem Selbstbewusstsein der Leistung von dreißig Jahren und in gründlicher Kenntnis der europäischen Lage kann ich Ihnen sagen: Vor dreißig Jahren hatten wir noch gedacht, unsere Zukunft sei Europa, heute sind wir der Ansicht, dass wir die Zukunft Europas sind. Und es ist meine Überzeugung, dass wir auch für diese Mission bereit stehen.
Gott segne die Bürger Tschechiens, an dem heutigen Jahrestag bringt Ungarn seine Ehrerbietung Tschechien dar.